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Lesen: Eine verschwindende
Kulturleistung – Retro‐Pädagogik ist
notwendiger denn je!
Was Sie heute erwartet
1. Ein paar Gedanken und Daten … 2. Empirische Belege
3. Unser Gehirn „verstärkt“ diese Entwicklung 4. Anregungen und ein Appell
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Ein paar Gedanken …
• Die Digitalisierung ist Teil des täglichen Lebens.
• Auch in der Lehre wird die Anwendung von digitalen Medien im Unterricht an Schulen und an universitären
Bildungseinrichtungen zunehmend gefordert.
• Aufgrund der digitalen Beschäftigungsmöglichkeiten (Spielen, Streamen, Chatten,…) scheint eine digitale Attraktivierung der Lehre unabdingbar zu sein, weil wir die Studierenden mit
banalen Instrumenten, wie es zum Beispiel ein Lehrbuch darstellt, nicht mehr erreichen.
• Ich persönlich sehe diese Entwicklung äußerst kritisch!
• Dazu nun ein paar Grundlagen.
Prozedurales Gedächtnis
Ergebnis des Experiments
1. Messung
(keiner konnte Jonglieren)
2. Messung
(wenn sie mind. 60 Sekunden Jonglieren konnten)
3. Messung
(drei Monate nach der 2. Messung; kein Jonglieren in dieser Zeit)
2004
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Semantisches Gedächtnis
Quelle Wikipedia:
[...]Um die begehrten Taxilizenzen für die Innenstadt zu erhalten, müssen die zukünftigen Fahrer einen anspruchsvollen Test bestehen. Dabei müssen sie für eine „All London“‐Lizenz sämtliche der rund 25.000 Straßen in einem Radius von sechs Meilen rund um Charing Cross auswendig kennen. […]
Semantisches Gedächtnis
Dichte der Grauen Substanz in Abhängigkeit der Zeit und Gruppenzugehörigkeit.
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Semantisches Gedächtnis
Lernen für eine Prüfung während des Medizinstudiums („Physikum“)
Semantisches Gedächtnis
• Während der Lernperiode hat sich die graue Substanz im parietalen Assoziationscortex, das ist ein Bereich der Großhirnrinde, signifikant erhöht.
• Nach der Lernperiode blieb die Dichte praktisch unverändert.
3 Monate nach der Prüfung
3 Monate vor der Prüfung Unmittelbar vor oder nach der Prüfung
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Lerngeschwindigkeit ist vom Alter
abhängig!
Was Sie heute erwartet
1. Ein paar Gedanken und Daten … 2. Empirische Belege
3. Unser Gehirn „verstärkt“ diese Entwicklung 4. Anregungen und ein Appell
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Diverse Filme oder Serien streamen
Ca.
10 % Ca.
10 %
Ca. 50 % der bis 29jährigen streamen zwischen 4 und 7 Tagen in einer Woche ….
Bei den über 50jährigen sind das derzeit noch unter 10% !
Ca.
50 % Ca.
50 %
Onlinebefragung (Juli 2018); n=1030, Quotierung nach Alter, Geschlecht und Bundesländer
Computer/Handy/Tablett spielen
Ca. 40 und 50 % der Befragten in allen
Altersgruppen spielen an 5 und 7 Tagen in der Wochen mit einem Computer, Handy, Tablett,…
Ca.
40‐50
% Ca.
40‐50
%
Onlinebefragung (Juli 2018); n=1030, Quotierung nach Alter, Geschlecht und Bundesländer
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Diverse Filme oder Serien im Fernsehen ansehen (z. B. ORF, Pro7, RTL,....)
Ca.
20 % Ca.
20 %
Ca. 40 % der bis 29jährigen schauen nicht mehr fern.
Bei den über 50jährigen verzichten bereits in etwa
20% auf das Fernsehen!
Ca.
40 % Ca.
40 %
Studie der FH OÖ, n=1030; repräsentativ für die österreichische Bevölkerung im Bezug auf Alter und Geschlecht
Onlinebefragung (Juli 2018); n=1030, Quotierung nach Alter, Geschlecht und Bundesländer
Handy‐Nutzung – eine beliebige Studie
Quelle: Mobile Communications Report 2018, MMA Austria
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Fachinfo ‐ Recherche
24 % 24 %
Nur 24 % der bis 29jährigen recherchieren noch in
gedruckten Büchern.
Bei den über 50jährigen sind es nur noch 16%.
74 % 74 %
74 % der bis 29jährigen recherchieren über Google.
Bei den über 50jährigen sind es immer noch 57%.
Onlinebefragung (Juli 2018); n=1030, Quotierung nach Alter, Geschlecht und Bundesländer
Bücher elektronisch lesen
62,1%
7,4%
8,3%
1,8%
1,8%
1,6%
3,4%
4,8%
1,8%
6,9%
57,1%
9,8%
7,1%
5,4%
4,0%
3,1%
3,6%
4,9%
2,2%
2,7%
0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100%
das mache ich noch seltener oder gar nicht das mache ich meist nur im Urlaub ca. 1‐3x im Monat 1 2 3 4 5 6 7
16 bis 29 Jahre 30 bis 49 Jahre 50 Jahre und älter
Nur 33% lesen zumindest 1x im Monat ein eBuch.
Onlinebefragung (Juli 2018); n=1030, Quotierung nach Alter, Geschlecht und Bundesländer
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Bücher gedruckt lesen
13,3%
14,7%
19,3%
4,0%
4,7%
4,4%
7,0%
9,1%
4,2%
19,3%
15,2%
20,1%
25,0%
2,2%
7,6%
4,9%
7,1%
7,6%
6,3%
4,0%
0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100%
das mache ich noch seltener oder gar nicht das mache ich meist nur im Urlaub ca. 1‐3x im Monat 1 2 3 4 5 6 7
16 bis 29 Jahre 30 bis 49 Jahre 50 Jahre und älter
Ca. ein Drittel liest nur im Urlaub oder gar nicht mehr!
Onlinebefragung (Juli 2018); n=1030, Quotierung nach Alter, Geschlecht und Bundesländer
Es ist zu evident zu befürchten, dass…
…die überbordende Nutzung von digitalen Medien die Schreib‐
und Lesekompetenz verringert.
• Das behindert den Aufbau von Strukturwissen!
• Komplexe Sachverhalte können daher nur mehr unzureichend erfasst werden.
• Das führt auch dazu, dass Inhalte zunehmend unreflektiert
übernommen und als valide bewertet werden Anfälligkeit für Fake‐News!
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Warum?
• Tätigkeiten, die man regelmäßig macht, induzieren
Veränderungen im Gehirn ‐ sie werden gelernt ‐ und können in der Folge effizient durchgeführt werden.
• Tätigkeiten, die man nicht regelmäßig macht, werden eben nicht gelernt und können demzufolge gar nicht ‐ oder nur mit
kognitiver Anstrengung ‐ gemacht werden.
• Wichtige Kulturleistungen sind unbestritten Lesen und sich in Schriftform ausdrücken zu können.
• Diese Kulturleistungen sind auch gleichzeitig die Basis für explizite Lernvorgänge (Aneignung von Faktenwissen).
Schreib‐ und Lesekompetenz
95 96 97 98 99 100 101 102
Spielkonsole keine Spielkonsole
Ergebnis beim Lesetest (Kinder zw. 6‐9 Jahren)
Punkte
vorher
vorher
Weis R., Cerankosky B.C. (2010): Effects of video‐game ownership on young boys' academic and behavioral
functioning: a randomized, controlled study. Psychol Sci. 2010 Apr;21(4):463‐70. doi: 10.1177/0956797610362670
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Schreib‐ und Lesekompetenz
95 96 97 98 99 100 101 102
Spielkonsole keine Spielkonsole
Ergebnis beim Lesetest (Kinder zw. 6‐9 Jahren)
Punkte
vorher
vorher
nachher
nachher
Weis R., Cerankosky B.C. (2010): Effects of video‐game ownership on young boys' academic and behavioral
functioning: a randomized, controlled study. Psychol Sci. 2010 Apr;21(4):463‐70. doi: 10.1177/0956797610362670
PISA‐Lesekompetenzen: 2005‐2015
400 420 440 460 480 500 520 540 560
MEX LUX PRT GRC POL HUN DEU ITA AUT CZE ESP DNK USA FRA NOR
BEL ISL SWE JPN GBR KOR IRL AUS NZL CAN FIN
2015 2005
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Was Sie heute erwartet
1. Ein paar Gedanken und Daten … 2. Empirische Belege
3. Unser Gehirn „verstärkt“ diese Entwicklung 4. Anregungen und ein Appell
Die Evolution verstärkt diese Tendenz
• Das Gehirn hat in etwas einen Anteil von 2% vom Körpergewicht.
• Es verbraucht jedoch ca. 20 Prozent von der gesamten Energie, die der menschliche Körper im Ruhezustand benötigt (Raichle 2006;
Attwell und Laughlin 2001).
• Von diesen 20 Prozent werden schätzungsweise 60‐80 Prozent für die Kommunikation zwischen den Nervenzellen benötigt.
• Es wird nun angenommen, dass dieser hohe Energiebedarf eine Limitierung der Gehirngröße zufolge hatte und zu einer Anpassung führte (Aiello und Wheeler 1995).
• Körper wurden filigraner Gehirn hat mehr Energie zur Verfügung wurde größer!
• Größer werdendes Gehirn entwickelte höchste Effizienz, wie es Informationen verarbeitet (Peters 2011).
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Die Evolution verstärkt diese Tendenz
• Wie interpretieren Reize jeglicher Art so, dass möglichst einfache Strukturen erkannt und Objekte generalisiert werden.
• Es gilt, dass Einfachheit als positiv empfunden wird.
• So gefällt Kindern das Lied „Schlaf, Kindlein, schlaf“
insbesondere deshalb, weil es so einfach und simpel ist.
• Erst wenn jemand dazu in der Lage ist, wird er auch
komplexere Musik als schön empfinden (Reber und
Topolinski 2009).
Konsequenz
• In Analogie dazu kann geschlussfolgert werden, dass dies für jedweden Informationsverarbeitungsprozess Gültigkeit hat.
• Komplexe Inhalte werden erst dann interessant, wenn sie verstanden werden.
• Somit gilt: Nur wer liest, kann textuelle Inhalte
sinnerfassend und mit positiven Gefühlen erschließen.
Die Bildungseinrichtungen sind gefordert, dieser
Entwicklung entgegenzusteuern!
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Was Sie heute erwartet
1. Ein paar Gedanken und Daten … 2. Empirische Belege
3. Unser Gehirn „verstärkt“ diese Entwicklung 4. Anregungen und ein Appell
Anregungen
• Aus diesen Gründen sollte Lesen und selbstständiges Erarbeiten von Inhalten wieder vermehrt in den Unterricht eingebaut
werden – auch mit innovativen, didaktischen Konzepten!
• Die Studenten müssen gefordert und (auch extrinsisch) motiviert werden, sich Inhalte autodidaktisch anzueignen – durchaus in Kombination mit seriösen, vorhandenen Internetquellen.
• Ich persönlich bin der tiefen Überzeugung, dass dafür gute
Lehrbücher, auch in digitaler Form, gut geeignet und notwendig sind.
• Bücher sind zudem kostengünstig, haben eine höhere
Halbwertszeit und sind losgelöst von technischen Problemen.
• Begleitende, digitale „Tools“ stören nicht, sollten jedoch nicht im Fokus stehen.
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