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Georg Schmid

Wissenschaftliche Territorien:

wie sie sich präsentieren und demarkieren

Abstract: Academic Territories: how they present and demark themselves.

Starting from Tony Bechers und Paul Trowlers Academic Tribes and Terri- tories the article firstly discusses linguistic and socio-cultural conditions of statements and the influence they have on constituting scientific disciplines.

In the second part the author investigates how national traditions preform knowledge and its acquisition; used as a metaphor the term ‘territory’ shows how tribal habits can be used as a model for gathering and evaluating know- ledge. In the third part it is asked how and how far disciplines and national criteria are compatible and how a global consensus emerges. Part four inclu- des a sketch on the coherence of differently interpreted territories (and res- pective tribes inhabiting them) and discusses mechanisms of recruiting new academics. In a final part all of this is related to the author’s professional experience lasting for over fifty years.

Key Words: Disciplines’ Boundaries, Academic Tribes and Territories, Nati- onal Traditions in the Humanities, Canon and Carreer, Innovative Concepts in the Humanities, Semio-History.

Vorbemerkung

Ausgehend von Tony Bechers und Paul Trowlers Academic Tribes and Territories erörtert dieser Aufsatz zunächst die linguistischen und soziokulturalen Bedingun- gen von Aussagen und welchen Einfluss sie auf die Konstituierung von Disziplinen haben. Im zweiten Abschnitt wird untersucht, wie nationale Traditionen Wissen und die Gewinnung von neuem Wissen prägen; als Metapher gebraucht, zeigt der Begriff

‚Territorium‘, wie „tribalistische“ Gepflogenheiten in verschiedenen Gebieten für das

Georg Schmid, Les Bussières, F-23260 Saint-Oradoux-prèx-Crocq. [email protected]

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Zusammentragen und Auswerten von Wissen leitend sind. Der dritte Abschnitt geht der Frage nach, inwieweit wissenschaftliche Disziplinen und nationale Kriterien ver- einbar sind, und wie sich ein globaler Konsensus über wissenschaftliche Disziplinen herausbildet. Der vierte Abschnitt bringt eine Skizze über die Zusammenhänge zwi- schen den verschieden aufgefassten Territorien (sowie den sie „bewohnenden Stäm- men“) und der Rekrutierung des ‚Nachwuchses‘. Im letzten Abschnitt beziehe ich schließlich meine eigenen Berufserfahrungen auf diese Fragen; da sich die Disziplins- Praktiken im Laufe des letzten halben Jahrhunderts geändert haben, ist mein subjek- tiver Blick auf sie potenziell aussagekräftig. Leitend ist eine Maxime, die der große Physiker Richard Feynman in verschiedenen Varianten immer wieder aufgebracht hat: da es Forscher/innen ohnehin niemals gelinge, sich auf einen Kurs zu einigen, sei es am vernünftigsten, den gerade am aussichtsreichsten scheinenden Weg zu wählen.

I – Demarkation nach Disziplinen

Ein neues Buch von Alan Greenspan nennt sich The Map and the Territory.1 Der Titel ist irritierenderweise identisch mit dem eines Romans von Michel Houelle- becq, der drei Jahre zuvor erschienen ist.2 In dem Roman kommen zwar zahlreiche

„reale“ Personen des mondänen Pariser Lebens vor, wohl der „Elite“ Frankreichs zuzurechnen und im Sinn Tony Bechers eine Art „Stamm“, doch ist das Ganze zu einer Fiktion montiert, deren Kartographie keineswegs das sozio-politische Territo- rium des Hexagons wiedergibt. Greenspan hingegen verfolgt die Absicht (offenkun- dig versuchend, sein etwas ramponiertes Renommee zu reparieren), den momenta- nen Stand der ökonomischen Dinge gemäß seinen Analysen darzustellen. Er hebt gleich ganz zu Anfang seines Buchs hervor, dass er sich mit dem Begriff map auf das

„conceptual framework",3 auf den Modellcharakter von Darstellungen, beziehe, der in einem nachvollziehbaren Zusammenhang mit dem Realen stehe.4

Aber ebenso wie Hexagon metaphorisch (und wohl allzu poetisch) auf Frank- reich Bezug nimmt und es damit (vermöge der indirekten Ansprache) distanziert signifiziert, sind auch im vorliegenden Fall Territorium und Karte (ebenso wie tribe) metaphorisch. Ein wissenschaftliches Feld ist nicht wirklich ein Territorium, das ja ein geographischer und politischer Begriff – und aus diesen Bereichen ent- lehnt – ist. Andererseits erscheint die Sachlage klar, wenn der Beruf Historiker/in ist. Die betreffende Person übt eine Profession aus, die als bekannt vorausgesetzt werden darf. Die Ausübung des Metiers erfolgt in einem recht genau abgezirkelten (also zureichend definierten) Bereich, der durchaus als Territorium gesehen wer- den kann – wenn man/frau den metaphorischen Charakter dieser Bezeichnung im Auge behält.

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Die Sachbezogenheit – Erklärung des Vergangenen – scheint im Vordergrund zu stehen, aber diese Sache wird in der Praxis davon bestimmt, wie die Profession ihr

„Territorium“ jeweils umschreibt. In gewisser Hinsicht bleibt indessen die Verwen- dung des Wortes Territorium im Zusammenhang mit Geschehen irritierend. „Ter- ritorium“ ruft (relativ) Stabiles auf – ein Gebiet, etwa geologisch, bleibt ein Gebiet, und eine Landkarte ist relativ lange gültig, während das Geschehen etwas Dynami- sches ist. Emmanuel Le Roy Ladurie wählte für seine Vorlesungen am Collège de France den Titel Le territoire de l’historien.5 Seine Antrittsvorlesung ist „L’histoire immobile“ betitelt,6 was einerseits ein historiographisches Programm impliziert, andererseits den eben aufgezeigten Widerspruch „dynamisch/statisch“ nur unvoll- kommen auflöst. Le Roy Ladurie meinte bekanntlich, dass die „Öko-Demographie“

vom 14. bis zum 18. Jahrhundert im wesentlichen stabil wirke.

Er betonte aber, dass er sich auf das „Hexagon“ beziehe, also ein klar umrissenes Gebiet. Mit diesem Wort wird Frankreich von französischen Sprecher/inne/n meta- phorisch umschrieben. Die rhetorischen Konventionen des Französischen (auch im schriftlichen Ausdruck) erlauben bei der zweiten Erwähnung einer Sache die Wiederholung des unmittelbar vorher gebrauchten Wortes nicht. Sage ich France, darf ich beim nächsten Mal nicht wieder France sagen, sondern muss eine Alterna- tive wählen, also etwa l’héxagone. Habe ich gerade Amérique gesagt, darf ich dieses Wort nicht unmittelbar danach wiederholen, sondern muss etwa sagen: outre-Atlan- tique. Das mag poetisch und elegant und raffiniert wirken, gibt aber Anlass zu Miss- verständnissen. Jenseits des Atlantiks liegen noch andere Territorien/Staaten, viele von ihnen von nicht unerheblicher Bedeutung; außerdem lässt das „outre“ natür- lich auch an die départements et territoires d’outre-mer denken (z. B. Réunion, Wal- lis et Futuna, Kerguelen etc.), also „Außenbesitzungen“ Frankreichs, die außerhalb des Hexagons liegen.

Für frühere Jahrhunderte ist mit héxagone weniger ein homogener Sprachbereich umschrieben – der Prozess der francisation, der mit Villers-Cotterêts 1529 beginnt, wird eigentlich erst vor gut hundert Jahren mit der „republikanischen Schule“ Fer- rys abgeschlossen – als eben tatsächlich ein Territorium: es wird ein späterer Sprach- gebrauch zurück projiziert, der auf den fixen Regeln heutigen „kultivierten“ Spre- chens beruht. Welche Bevölkerungen (der Plural ist wohl angebracht) finden sich in einem Territorium? Sind es „Stämme“ (tribes)? Erinnern wir uns, dass zumal deut- sche (und deutschnationale) Philologien diesem Konzept auf eigentümliche und wenig symphatische Weise sehr zugetan waren (konkret zu denken ist an den Ger- manisten Nadler). Auch der Begriff Territorium ist in mancher Hinsicht prämodern und entspricht nicht mehr den heutigen vernetzten globalen Strukturen. Er ruft teils immer noch aktuelle Vorstellungen von hierarchischer Ordnung und geographisch prädeterminierter Verfügbarkeit über Menschen in Nationalstaaten hervor.

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In vielerlei Hinsicht ist es letztlich egal, was wie benannt wird – vorausgesetzt zwei Grundbedingungen sind erfüllt: die Herkunft des gewählten Begriffs muss klar sein, und er darf nicht ideologisch aufgeladen werden, sondern muss kritisch

„dekonstruiert“ werden. Im konkreten Eingangsbeispiel der französischen Histo- riographie geht es bei derlei Begriffen im wesentlichen um Entlehnungen aus der Ethnographie. Aber jeder transponierte Begriff wird, graduell abhängig von sei- ner Anwendung, unvermeidbar Metapher, auch wenn er vorher (relativ) unmeta- phorisch war. Mit voller Absicht stelle ich also eine erste kursorische Analyse von semantischen und präsentativen Modi an den Anfang, um sogleich klar zu machen, dass historische Vorstellungen nicht zuletzt durch Ausdrucksweisen zustande kom- men. Es ist nichts als unhaltbare Naivität anzunehmen, dass man/frau an „die Dinge an sich“ direkt herankomme, die Sprache samt ihren rhetorischen Traditionen ist immer mit dabei.

Die Grund-Proposition ist, dass Territorium gleichwohl auch als Arbeitsbereich oder -gebiet (und nicht nur als geographisches Gebiet) verstanden werden kann.

Aber keineswegs nur in der französischen Sprache wird der Begriff territoire fast automatisch auf ein national (oder regional und lokal) definiertes Gebiet bezogen (für territory, Territorium etc. gilt Analoges). Damit ist allerdings eine Reihe von Fragen aufgeworfen. Ich nenne zunächst nur folgende. Ist die Bevölkerung (inner- halb) eines Territoriums (auch nur annähernd) homogen? In Analogie dazu: arbei- ten alle innerhalb eines Arbeitsgebiets, einer Disziplin, gleich oder auch nur ähn- lich? Sind „akademische Stämme“ (Becher) an Territorien gebunden? Und wie viele können in einem solchen koexistieren? Wie viele Ethnien, linguistische Gruppen, Klassen, Kasten, Kader, Kamarillas können innerhalb eines staatlichen Territori- ums koexistieren, ohne das System zu überfordern, und – per Analogie hergelei- tet – inwieweit ist die Koexistenz verschiedener Paradigmen innerhalb einer wissen- schaftlichen Disziplin möglich?

Territorium impliziert einerseits etwas Finites, schon Abgegrenztes, andererseits aber auch, dass es vielleicht noch unentdeckte (oder noch nicht kartographierte) Gebiete gebe; zu denken ist an die weißen Flecken auf den Karten Afrikas vor gar nicht so langer Zeit. Darüber hinaus spielt die mögliche Existenz von „un known unknowns“ eine Rolle. Die Festlegung von territorialen Grenzen ist etwa im Hin- blick auf vermutete Energiereserven von kardinaler Bedeutung: in diesem Fall könnte man/frau von „as yet unknowns“ sprechen. Von einem zoologischen Blick- winkel aus muss zudem in Betracht gezogen werden, dass okkupierte Gebiete ver- teidigt zu werden pflegen, und es ist nicht nötig, auf „man’s animal brain“ zu verwei- sen, um zu sehen, dass auch im sozialen Zusammenleben der Menschen quasi ani- malische Verhaltensmuster nur allzu häufig sind.

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Wie verlaufen Grenzlinien, wie sind sie motiviert? Gerade innerhalb Europas nimmt die Bedeutung, die Grenzen zugeschrieben wird, wieder zu. Die „immer inni- gere Gemeinschaft“, die die EU erträumte, wird primär von den ökonomischen und fiskalisch-finanziellen Katastrophen dementiert, während eine Reihe weniger kon- kreter Faktoren ebenfalls in erstaunlichem Ausmaß hereinspielt, von traditionalen Loyalitäten zu kleinräumigen Gebieten bis hin zu religiösen Obsessionen. Gerade an diesem Punkt dürfen wir uns nicht täuschen: was als Sachzwang, Notwendig- keit und daraus resultierendes quasi immaterielles Charakteristikum erscheint, ist letztlich auf eine Praxis des sozialen Tuns im Certeauschen Sinn rückführbar7 und demzufolge variabel und inkonstant, und die zugrunde liegenden Kausalitäten sind, wegen ihrer irrationalen Komponenten, nur sehr schwer greifbar.

Alle Wörter in solchem Umfeld sind fragwürdig – und unübersetzbar. Im Ver- einigten Königreich: zwei nations in einem country (Schottland + England); für die Deutschnationalen war eine Nation auf zwei Staaten aufgeteilt (Österreich, Deutsch- land). Sprachlicher Ausdruck ist „realitätsstiftend“. Die Metapher impliziert Ana- logie, und tatsächlich lassen sich zwischen dem Denken in nationalen (oder natio- nalstaatlichen) Kategorien und der Auffassung, dass akademische Disziplinen recht genau abzugrenzen seien (hinsichtlich ihrer Themenstellungen, Techniken und Wissensziele), befremdende Ähnlichkeiten feststellen. Vergleichbar dem sogenann- ten „Nationalcharakter“ (inzwischen wird der elegantere Begriff „kollektive Men- talitäten“ vorgezogen) weisen auch Wissenschaftsgebiete (vorgeblich oder tatsäch- lich) in praxi spezifische Eigenschaften auf. Sie unterscheiden sich mehr oder weni- ger deutlich von denen angrenzender (oder auch ferner liegender) Gebiete. In den Kernzonen, gruppiert um die Wissensmachtzentren, tritt das jeweils Typische mit besonderer Klarheit hervor, gegen die Peripherien hin mag eine Art Ausfransen fest- zustellen sein.

Das Hauptcharakteristikum der Geschichtswissenschaften ist, ganz simpel ge- sagt, sich mit Vergangenem zu beschäftigen. Aber dennoch wird zumindest impli- cite diesem Vergangenen Relevanz für die Gegenwart zugeschrieben. Und welches

„Vergangene“ wie behandelt wird, gibt Aufschluss über gegenwärtige Motivatio- nen. Damit ist eine Bestimmung (quasi im Sinne einer Triangulation) durchgeführt;

sie deutet auf eine Verschränkung von Nachwirkendem und Vorausgehendem hin.

Das „Spatiale“ der Historiographie – der Raum qua Forschungsgebiet oder Territo- rium – wird ausgewogen durch das Temporale des Geschehenen. Es geht also nicht nur („per se“) um ein Zurückliegendes, sondern insbesondere darum, wie gegen- wärtige Motivation die Relevanz von Vergangenem definiert und damit retroaktiv auf das eigentlich Historische Einfluss nimmt.

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Aber das Historische ist offenkundig viel zu weitläufig, um selbst von einer alles in allem personell umfangreichen Profession überblickt zu werden. Dieser nicht völlig bewusst gemachte Umstand hat vermutlich zu einer bemerkenswerten ter- minologischen Umstellung beigetragen. Sie ist jüngeren Datums, als man glauben möchte: Der nunmehr präferierte Plural Geschichtswissenschaften zeigt – indem er den quasi integrativen Singular, der einen eindeutigen Definitions- und Delimitie- rungsanspruch stellte, ablöste – eine Öffnung an. Grenzen sind durchlässiger gewor- den, innere Vielfalt ist zugewonnen worden, wenn auch das Ideal veritabler Inter- disziplinarität immer weiter entweicht. Die Kartographie hat sich angepasst, wird aber dem Territorium immer noch nur unzulänglich gerecht. Der Umstieg auf den Plural Geschichtswissenschaften bringt immerhin einen Zugewinn an innerer Viel- falt, der nicht à la longue dargelegt zu werden braucht: zu Diplomatie- und poli- tischer Geschichte sind Wirtschafts-, Sozial-, Mentalitäts-, Technik-, Frauen-, All- tagsgeschichte etc., etc. hinzugetreten – und nicht bloß additiv, sondern integrativ.

Pragmatisch und wissenschaftstheoretisch gesehen ergeben sich daraus mindes- tens zwei Probleme. Niemand (als Person) kann „all das“ überblicken, schon gar nicht in seinen temporalen Staffelungen. Und das Territorium ist weniger genau bestimmbar. Was noch vor annähernd zwei Wissenschaftler/innen-Generationen, allerdings durch erhebliche Einengung, wenigstens für eine bestimmte Ära (und eben durch Engführung innerhalb eines bestimmten Gebietes) tendenziell über- blickbar war, ist durch den neuen (wenn auch oft nur impliziten) universalistischen Anspruch fast gänzlich unhandhabbar geworden. (Allerdings hat es immer schon Vorwürfe gegeben, jemand maße sich mit einer weiteren Perspektive zu viel an, das Forschungsfeld sei zu weitläufig, weites Ausgreifen manifestiere nur Halbbildung, respektive, je nach Belieben, die Darstellung sei nicht präzise genug oder gehöre immer noch mehr eingeengt, wodurch à la limite nur mehr zwei, drei Spezialist/inn/

en übrig blieben.)

Was früher Hilfswissenschaften genannt worden ist, hat mutiert zu, sagen wir provisorisch, adoptierten Disziplinen. Eine „territoriale Erweiterung“. Von weiteren Konsequenzen zunächst zu schweigen. Es ist etwa offenkundig, dass Wirtschaftsge- schichte ohne solide nationalökonomische Kenntnisse nicht auszuüben ist (umge- kehrt werden Ökonomen ohne historische Perspektiven nur allzu leicht in die Irre gehen8); Technikgeschichte erfordert solide Kenntnisse aus Bereichen wie Physik, engineering etc. – bis hin zu detaillierterem Spezialwissen (Aviatik z. B.). Weniger markant ist das, in abnehmender Weise, bei Sozial- und Kultur- und Mentalitätsge- schichte, aber eben nur weniger deutlich: ohne soziologische Kompetenz oder etwa mit nur defizitären Kenntnissen in puncto Kultur oder spezifischer Kunst werden die Ergebnisse fragwürdig sein, auch wenn die jeweilige Insuffizienz weniger aufzu- fallen pflegt als in Natur- und Technik-Wissenschaften. Studien (auch historische),

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die sich nur der eigenen Gruppe und „Identität“ widmen – queer studies etwa oder black studies – verengen darüber hinaus die Perspektive in einem so entscheidenden Ausmaß, dass bisweilen Kritik vorgebracht wird, hier studierten manche nur mehr fast ausschließlich sich selbst. Eine gewiss notwendige Konterstrategie muss einen besonders starken Akzent auf komparatistische Momente setzen.

Es ist also schwierig, ein „wissenschaftliches Territorium“ zu umreißen, und noch schwerer, die vielen in ihm Tätigen zu charakterisieren. (Behalten wir die Frage im Auge: weisen sie tatsächlich gewisse Merkmale der Angehörigen von „Stämmen“

auf? Ja: wenn man bereit ist, mit Metaphern vernünftig umzugehen.) Die Grenzzie- hungen waren aber immer schon höchst merkwürdige. Kunstgeschichte vermochte von der Geschichtswissenschaft im „eigentlichen“ Sinn nie vereinnahmt zu werden, was sich bis heute für die Auswertung von Quellenmaterial beispielsweise zu mate- rieller Kulturgeschichte ungünstig auswirkt. Wirtschaftsgeschichte führte teilweise eine Eigenexistenz, spielte eher in die „allgemeine“ Geschichte hinein, als dass sie sich von ihr gängeln ließ.

Als generelle Regel lässt sich postulieren: Je geringer physics envy, desto leich- ter lassen sich räsonable Eigenpositionen aufbauen und festigen. Allerdings könn- ten wir die Sache einmal umdrehen und sagen: ja, ohne Zweifel weisen die histori- schen Wissenschaften nie die Präzision von Physik und anderen Naturwissenschaf- ten auf, aber jene sind, auf profunde Reflexionen angewiesen, gerade deshalb nicht zu verachten, weil man viel und „schön“ denken muss. So besehen, ist die lange Zeit allzu stark im Vordergrund stehende „empirische“ Ausrichtung auf restringierte Quellencorpora und spezifische Archive nichts als ein Reflex, der in gewisser Weise eben tatsächlich auf den physics envy zurückzuführen ist. Dieser Reflex ist insofern lobenswert, als er zu großer Gewissenhaftigkeit führt; er ist verständlich (um nicht zu sagen selbstverständlich), engt allerdings den Raum genereller Erkenntnis ein.

Es kommt uns jedenfalls zugute, dass „Quellenmaterial“ heute ungleich weiträumi- ger verstanden wird als früher (das historiographische Territorium hat sich ausge- dehnt). Aber auch die gewissenhafteste Auswertung bleibt unzureichend ohne Spe- kulationen und Theoriebildung und anschließende Versuche von Verifikation und Falsifikation.

Eine kritische Erörterung der Grenzlinien zwischen den „klassisch“ historischen und wirtschaftsgeschichtlichen Territorien und ihren Populationen könnte auf die Fundierung durch Quantifizierung und Mathematisierung letzterer verweisen, viel- leicht schon zu einer Zeit, als die Allgemeine Geschichte noch der „Einfühlung“

nachträumte. Datenermittlung und -auswertung sind aber in jedem Fall eine kom- plexe Geschichte; es wäre falsch, die interpretatorischen Faktoren dabei zu unter- schätzen. Am deutlichsten wird das zur Zeit bei der Auseinandersetzung zwischen

„austerians“ und Keynesianern, bei der es in der Tat um Entscheidendes geht. Han-

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delt es sich hier sozusagen um zwei „Stämme“, die dasselbe Territorium bewohnen und beanspruchen? Verwenden wir den Begriff „Stamm“ bewusst metaphorisch – und hergeleitet aus der Ethnographie9 –, kann er hilfreich sein.

Vorentscheidungen, die Perspektiven betreffen, sind von großer Wichtigkeit.

Der Begriff Erkenntnisinteresse wäre ebenfalls am Platz, allerdings nur dann, wenn man umgehend in Rechnung stellt, dass „Interesse“ eine komplette Landschaft auch vorbewusster Motivationen impliziert. Ein Beispiel: Walter Laqueur ist hinsichtlich der Zukunft Europas außerordentlich pessimistisch, er geht primär von einem klas- sischen politikhistorischen Dispositiv aus, ohne diverse andere Komplexe zu igno- rieren.10 Barry Eichengreen erweist sich mit einer ebenfalls auf 2007 zurückgehen- den Publikation als ähnlich skeptisch – also schon vor dem Einsetzen der Großen Krise –, Diagnose und Prognose wirken aber balancierter, indem er die unstreitigen Erfolge der europäischen Staaten bis 1973 stark betont.11 Das gleiche „Territorium“

in sachlich-thematischer Hinsicht: aber aus verschiedenen Perspektiven.

Die beiden Bücher Laqueurs erheben, schon von den Titeln her – auch wenn sie dramatisieren –, einen generellen Anspruch („allgemeine“ Geschichte!: ein sehr ausgedehntes Territorium). Eichengreen gründet seinen Anspruch auf gültige Aus- sagen deutlich spezifischer auf präzise (und komparatistische) Forschungen zu den verschiedenen wirtschaftlichen Entwicklungen europäischer Staaten seit 1945.

Reinhart und Rogoff stecken den Rahmen wesentlich weiter: sie behandeln acht Jahrhunderte „finanziellen Wahnsinns“.12 Anhand eines Aufsatzes der beiden ist nun allerdings eine (könnte man sagen) Stammesfehde ausgebrochen. Die „90-Pro- zent-Schwelle“, die sie angeblich postulieren – jenseits derer Staatsverschuldung zu deutlicher Verlangsamung des Wirtschaftswachstums führte –, ist von Forschern in Amherst attackiert worden. Die Aufregung darüber ist nur vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung zwischen Keynesianern und „austerians“ zu verstehen.

Lassen wir den fast perfekten Homomorphismus (Austrians/austerians) beiseite:

immerhin lassen ja beide Wörter, auch der Neologismus, an die Austrian School of Economics denken (Menger, Böhm-Bawerk, Mises etc.); vor allem Hayek ist zu einem Reizwort (oder vielmehr quasi zu einem Reizkonzept) geworden. Die Ausein- andersetzung auf dem Felde ökonomischer Theorie(bildung) und deren Anwend- barkeit hinsichtlich politischer Optionen zeigt uns zwei „Lager“: schlicht gesagt, zwischen den Sparsamen und den Prassern. Aber die Wörter der Nationalökono- mie sind größer als die des üblichen Sprachgebrauchs, obzwar es keinen Grund gibt, jemanden als „schwäbische Hausfrau“ abzutun, weil sie einen gut geordneten Haus- halt anstrebt. Ich habe mit voller Absicht auf solche Wortwahl angespielt, um auf die (massen)politische Dimension der hochakademischen Kontroverse hinzuweisen.

Denn wenn in den club med-Ländern Europas nun Deutschland die Rolle des Bösen spielt (Nazistiefel und Hitlerbärtchen), dann mag das zu einem Teil dem sogenann-

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ten Volksempfinden entspringen, hat aber auch eine Komponente, die von der

„hohen Politik“ beigetragen wird. Zwei soziologisch unterscheidbare Anschauung- weisen ein und desselben Gebiets. (Ich verweise nur auf den scharfen Angriff der französischen Sozialisten auf die deutsche Politik, der Le Monde zugespielt wurde;13 dies nimmt in vielen seither erfolgten Äußerungen seinen Fortgang.)

Eine ökonomische oder eine historische Perspektive also (oder etwa eine ethno- graphische)? Alle soziale Praxis verwischt die Grenzen der Disziplinen, die im aka- demischen Bereich gleichwohl weiter bestehen. Wir haben festgestellt, dass schon das Überblicken einer einzigen tendenziell unmöglich ist, was zum Teil auch die Schwierigkeiten mit der Interdisziplinarität erklärt. Indessen zeigt die sich zuspit- zende Kontroverse um Austerität versus Keynesianismus auch deutlich, dass akade- mische Disziplinen, indem sie letztlich doch Einfluss auf politische Entscheidungen haben, nicht nur schwer abzugrenzen sind, sondern sich in verschiedenen Kultur- bereichen und Ländern auch unterschiedlich darstellen. (Und zudem wird bisweilen nicht zu Unrecht gesagt, die Handlungsratschläge – etwa Budgetdefizit-Reduktion oder deficit spending – dienten nur zu einer Rechtfertigung a posteriori.)

II – Markierung nach nationalen Prädispositionen

„Prädispositionen“ ergeben sich aus historischer Erfahrung, also aus einer Art kol- lektiven Interpretation – beispielsweise – unbeeinflussbarer Entwicklungen (etwa des Klimas in einem bestimmten Territorium) und gewählter Kurse (z. B. auf

„Stammes“-Überzeugungen rückführbare Außenpolitik), über deren Zusammen- hänge wir erst wenig wissen. Der Grund für dieses geringe Wissen liegt an der man- gelnden komparatistischen Qualität historischer Studien, die sich traditionell auf klar abgegrenzte Territorien (im Regelfall national definiert) beziehen. Die Hinwen- dung zu immer knapperen Teilbereichen – thematisch und temporal, geographisch oder was die untersuchte soziokulturale Gruppe betrifft – hat, aller Verdienste etwa der microstoria zum Trotz, zu einer sich weitenden Distanz zwischen geschichts- wissenschaftlichen von gesamtgesellschaftlichen Koordinatensystemen beigetragen.

Die Gefahr von Vereinfachung besteht. Bewusst gemacht, kann sie zur Einsicht führen, dass in verschiedenen Kultur- und Sprachbereichen verschiedene Diszip- linen unterschiedliche Machtpositionen einnehmen und ungleiche Tendenzen zur Dominanz aufweisen. Die entsprechenden Positionen und Dynamiken korrespon- dieren mit generellen Ausrichtungen der Gesellschaften, in die die Wissenschaften eingebettet sind. Trotz Walras (der Österreichischen Nationalökonomischen Schule durchaus verwandt) etwa vor gut hundert Jahren sind die Wirtschaftswissenschaf- ten in Frankreich ähnlich marginalisiert wie die Wirtschaft selbst, worüber auch ein

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Sensationserfolg wie Thomas Pikettys Le Capital au XXIe siècle nicht hinwegtäu- schen kann.14 Vor fast zwanzig Jahren erschien ein heute noch erinnertes und immer noch einflussreiches Buch mit dem Titel L’horreur économique, das den „finanziellen Totalitarismus“ anklagte und allein in Frankreich eine Auflage von 350.000 Exemp- laren erzielte, was für ein Buch zur Ökonomie offenkundig ungewöhnlich ist.15

Eine gewisse in Frankreich endemische Aversion gegen Kommerz, globalen Handel, ja sogar Industrie im allgemeinen korrespondiert mit einer, wie man früher gesagt hätte, „schöngeistigen“ Ausrichtung der höheren Bildungs- und Forschungs- einrichtungen. Man/frau könnte durchaus von Stammesbrauchtum sprechen. Dar- aus ist beträchtlicher Einfluss der Human- und in geringerem Maß auch der Sozial- wissenschaften erwachsen. Diese Dynamik wurde durch die einstmals erhebliche Präsenz der französischen Sprache gestützt. Der Kontrast zu den angelsächsischen Ländern, in denen empirische Soziologie oder Nationalökonomie bedeutende Posi- tionen inne haben, ist deutlich. Ähnlich ist die anhaltende Präferenz für Heidegger bemerkenswert, während die Faszination Carl Schmitts in Frankreich zu denken gibt und die Traditions-Linie von Locke und Mill bis hin zu John Rawls oder Ronald Dworkin für den angelsächsischen Bereich charakteristisch ist.

Derlei Kontrastierungen wirken unvermeidlich generalisierend, oft sogar impres- sionistisch; aber wer versucht, verschiedenem „Brauchtum“ nachzuspüren, ist die- sem Risiko unvermeidlich ausgesetzt. Zur Illustration sei an Tony Judts sarkastische Darstellung der École Normale erinnert:16 erhebliche Unterschiede existieren, es hat keinen Sinn, sich mit der Ausrede politischer Korrektheit darum herum zu schum- meln. Es wird zu wenig bewusst gemacht, dass die Universitäten in Frankreich eine kärgliche Randexistenz fristen; was zählt, sind die grandes écoles, aus denen so gut wie alle Personen des sogenannten öffentlichen Lebens hervorgehen, von der Admi- nistration bis in die Wirtschaft und die Finanzen. Position und Prestige dieser écoles sind so unantastbar, dass jede (auch konstruktive) Kritik daran wirkungslos abprallt;

sie wird gewissermaßen im Sinne Roland Barthes’ rekuperiert. Dieses Gefälle uni- versité – grandes écoles hat eine Entsprechung in Oxbridge und Ivy League vs. red- bricks oder „just some college“. Manche Stämme sind eben etwas Besseres: die ent- sprechenden university presses gelten ungleich mehr als weniger bekannte Verlage, ungeachtet ihrer intrinsischen Qualitäten. Annähernd mit Becherscher Terminolo- gie könnte von „Landnahme“ und Behauptung des eingenommenen Territoriums gesprochen werden. Es mehren sich darüber hinaus die Anhaltspunkte dafür, dass bei der Benotung – einer Art Selbstbeurteilung – auch nicht alles zum besten stehe.17

Nationale Prädispositionen kristallisieren sich in der akademischen Welt mit besonderer Deutlichkeit. Die Bevorzugung gewisser Disziplinen, die in unterschied- lichem Maß methodisch-theoretische Unterfangen begünstigen oder behindern, ist dafür ein Kriterium. In Frankreich haben bekanntlich Anthropologie und Ethno-

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graphie lange Zeit die erkenntnistheoretischen Rahmen aller Disziplinen erheblich beeinflusst; an den Annales ist es deutlich abzulesen. Historisch ist das nicht zuletzt aus der kolonialen Vergangenheit herzuleiten, die ja, adaptiert, in gewisser Weise bis heute weiter existiert; die spezifische soziokulturale Szenerie des Wissenschafts- betriebs kann dann in einem quasi porösen Verhältnis zum Ensemble „nationaler“

Epiphänomena stehen. Es ist auch nicht weit hergeholt, eine gewisse angelsächsi- sche Vorliebe für economics aus den intensiven Handels- und Finanzbeziehungen herzuleiten. Wohl gemerkt: Es geht um Tendenzen, Wahrscheinlichkeiten und nicht um eindeutige Befunde. Gleichwohl wären, zumal komparatistisch, weiterreichende empirische Daten wünschenswert.

Am ehesten erscheint eine solche Quantifizierung hinsichtlich der Sprachen möglich, in denen wissenschaftliche Studien abgefasst werden.18 Da es aber inzwi- schen in Gestalt des Englischen eine lingua franca gibt, sozusagen eine „Leitsprache“

der Wissenschaften, hilft uns das für die Aufklärung allfälliger „Stammesgewohn- heiten“ kaum weiter. Wir bleiben auf impressionistische Zugänge angewiesen; auch sie sind bis zu einem gewissen Grad kontrollierbar und ihre Ergebnisse nachvoll- ziehbar. Der Habitus unversitärer Forscher und Lehrer ist weltweit nicht gleich, auch wenn sich bestimmte Standardisierungen vollziehen. Ich habe soeben nur die mas- kuline Form verwendet, um auf die Vermutung hinzudeuten, dass die zunehmende Präsenz von Frauen im Wissenschaftsbetrieb Verhalten und Umgangsformen auf längere Sicht verändern könnte. Es hat den Anschein, als würden sich einige typi- sche Habitus-Formen der klassischen deutschen Ordinarienuniversität inzwischen eher in Residuen als voll ausgeprägt manifestieren.

Simple Observationen erlauben es, ziemlich unterschiedliche Muster zu unter- scheiden. Aber die nötige Beweiskraft – die wir im wissenschaftlichen Denken nur aus den präzisesten Daten gewinnen zu können glauben – geht ihnen ab. Das ist nicht zuletzt das Resultat karikaturaler Verkürzungen, die aus ikonisch verfassten

„summaries“ idealtypischer Umstände erwachsen. Man/frau denke an den Oxford don, den deutschen Gelehrten, den französischen normalien, der seinerseits wieder in der rue d’Ulm lehrt. Wie unterscheidet sich der Habitus des Homo academicus (Bourdieu) gestaffelt nach nationalen Territorien und speziellen „Landschaften“ der akademischen Disziplinen und Sub-Disziplinen – eingedenk des Umstands, dass Landschaften Spezifika aufweisen, die nicht zuletzt „im Auge des/der Betrachters/- in“ sind?

Becher und Trowler sprechen von „disciplinary fragmentation“,19 und dass es dennoch „unifying factors“ gebe.20 Wie haben sich die Habitusformen in überschau- baren (oder schlicht erinnerbaren) Zeiträumen verändert? Wie unterschiedlich stel- len sich, komparatistisch, die diversen Umgangsformen mit Forschung und Lehre dar? Und wie unterscheiden sich „academic tribes“ von nicht-akademischen „Stäm-

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men“? Wie viele von diesen vermögen in einem relativ homogenen westfälisch-nati- onalstaatlichen Bereich zu koexistieren? Überdies muss immer in Betracht gezogen werden, dass ja „Stamm“ à la Becher nicht unironisch verwendet wird. (Umso bes- ser, denn nebst allem anderen müsste irgendwann auch die Frage gestellt werden, wie sich Stämme von Sippen oder Klans und von Staaten unterscheiden.)

Diese – durch einige Jahrzehnte europäischen Hoffens – tendenziell überwun- den geglaubten Staaten sind das, was ich bei meiner Verwendung des Begriffs Ter- ritorium primär im Auge habe. Seine Verwendung wirft eine Menge Probleme auf.

Souveränes Territorium? Wie grenzübergreifend können „Stämme“ gedacht wer- den? Flämisch gibt es zu beiden Seiten einer Staatsgrenze; der germanophone Wis- senschaftsbetrieb kannte kaum eine österreichisch-deutsche Grenze (wenn auch viel mehr Deutsche in Österreich berufen wurden als umgekehrt). Gibt es Homogenität hinsichtlich der Klassen (eine Art Solidarität von „Eliten“ einerseits, „breiten Mas- sen“ andererseits) oder vielmehr eine solche der Berufe und ihrer Ausübung? Füh- ren solche Fragen zu Vorstellungen korporatistischer Verfasstheit einer Gesellschaft?

In welchem Ausmaß sind Finanz und Handel wirklich grenzüberschreitend, indem die „Globalisierung“ (die „zweite“: die erste, vor 1914, war erfolgreicher) momentan sehr fragil wirkt? Gibt es Gemeinsamkeiten über territoriale Grenzen hinaus, gerade unter Wissenschaftler/inne/n, eine Internationale der Forscher/innen und Denker/

innen sozusagen?

Von all diesen und anderen hier nur angedeuteten Fragen scheinen mir im gegenwärtigen Kontext die der Wissenschaftler/innen/gemeinschaft und die eines möglichen Hinausgreifens über nationalstaatliche Grenzen hinweg die wesentlichs- ten. Ich versuche, in einer ironischen Skizze zu pointieren. Gibt es einen quasi inter- nationalen Habitus von Wissenschaftler/inne/n, ungeachtet der „nationalen“ Her- kunft, also primärer soziokulturaler Pägung? Wir müssen hier über Klischees hinaus gelangen, ohne sie völlig zu ignorieren, weil sie, proper analysiert, sehr aufschluss- reich sein können. Kann man/frau etwa in Form eines strukturalen Oppositivs das gravitätische Auftreten und die versuchte Eleganz des sprachlichen Ausdrucks fran- zösischer universitaires der laid-back Haltung tweed-jacket tragender, Saab-fahren- der US-academics gegenüberstellen? Sarkastisch würde ich sagen, mit der verbalen Ausdrucksfähigkeit ist es gar nicht mehr so weit her (zu sehr ausschliesslich rheto- rischen Traditionen verhaftet), und Saab ist tot (Frauen haben ohnehin in der Regel eher Volvo gewählt).

Ich habe mir ein Stichwort geliefert: Auto-Signifikation. Natürlich drückt ein Automobil – unvermeidlich – etwas aus; vorbewusst haben sich das viele zunutze gemacht, aus der Not eine Tugend machend, um eben eher planmässig sich zu kennzeichnen. Der Kleidungscode ist allerdings mindestens ebenso wichtig. Das ist natürlich eine Abgrenzung und Ausgrenzung nicht Zugehöriger, eine ziemlich

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klare Aussage über eine Art Mitgliedschaft. Der lose geknüpfte Schal über offenem Hemdkragen sagte lange Zeit: ich bin universitaire. In Kapitel 4 von Homo Academi- cus21 spricht Pierre Bourdieu von défense. Er bezieht sich damit auf die Verteidiger einer alten Ordnung, die sich bedroht sehe von Funktionsveränderungen des uni- versitären Marktes. Neuaufnahmen wollen gut geplant sein.

Eine solche Verteidigungs-Strategie wird gewiss auch durch das Festhalten an Formen des Auftretens transportiert, die Zugehörigkeit markieren. Solche Techni- ken könnten letztlich erfolgversprechender sein als „inhaltliches“ Operieren zum Zwecke von Modernisierung: ist nicht alles letzten Endes dazu verurteilt, entwe- der totgeschwiegen oder rekuperiert zu werden (Barthes)? Allerdings würden sich – hätten sie auch nur das geringste Interesse daran – die Angehörigen der mächti- gen „Eliten“ (also der Geld-Eliten) zweifellos darüber mokieren, dass sich gewöhn- liche universitaires/academics überhaupt zur Elite zählen. Diese Frage verdient in Betracht gezogen zu werden. Denn die Position des Wahrgenommen-Werden-Kön- nens – zu denken ist an public intellectuals, die mit erheblichen Einschränkungen Teil der Prominenz werden können, ohne jemals gänzlich den Status von echten celebs zu erreichen – ist ein Privileg, von dem wir nicht genau wissen, auf welche Weise es verliehen wird. Wir wissen nur, dass dazu gewisse Posen nötig sind; es muss auf gekonnte Art und Weise ein Cocktail constructed werden, dessen Bestand- teile wohl überlegt sein wollen.

Es fehlen uns verlässliche Daten über die Häufigkeit, mit der bestimmte Themen in bestimmten Sprach- und Kulturbereichen abgehandelt werden; der Zusammen- hang mit der Prädominanz (und dem „Prestige“) einzelner Disziplinen liegt auf der Hand. Insbesondere im transnationalen Vergleich brächte uns derartiges Material ungemein viel; seine Aufbereitung erforderte allerdings hochkomplexe Algorith- men, die es vermöchten, hinter Themenwahl und Titel oder die Politik jener Ver- lagshäuser zu blicken, die überhaupt noch wissenschaftliche Arbeiten publizieren.

Überdies unterscheiden sich, was die Soziokulturen und Sprachbereiche betrifft, Herangehensweisen (angewandte Techniken) ebenso wie Rezeption (die gleich- wohl, zu denken ist an die berühmten „Teetischbücher“, vorgespiegelt sein kann).

Mit Sicherheit ist es aber unzureichend, mit Impressionismen à la Annales-Tradition in Frankreich, intellectual und political history in den USA, deutliche Dominanz von Faschismusforschung oder Alltagsgeschichte oder oral history in Deutschland und Österreich, das Auslangen finden zu wollen.

Gibt es eine Korrelation zwischen bevorzugten Themen und Behandlungswei- sen einerseits und denjenigen Territorien andererseits, die die einzelnen Stämme der Geschichtswissenschaften bevölkern? Die deutlichste, die auch am leichtesten empirisch nachzuweisen ist, rührt aus den Sprachgrenzen her. Die nationalstaatli- che Sprache wird immer seltener verlassen; sogar wenn es eine Rezeption aus ande-

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ren Sprachgebieten gibt, setzt sie in der Regel Übersetzungen voraus. Und selbst in den Human- und Sozialwissenschaften ist außer Englisch eigentlich im Großen und Ganzen nur noch Französisch ein klein wenig präsent. Roger Chartier monierte kürzlich nicht zu Unrecht, dass in der Regel höchstens ein paar „Anglo“ Star-Autor/

inn/en à la Judith Butler zitiert werden, darüber hinaus ein oder zwei deutsche Alibi- Namen.22 Die zunehmende Konzentration auf die eigene Nationalsprache begüns- tigt gewiss das traditionalistische Weiterführen von Methoden ebenso wie von The- men. Umgekehrt führt die Dominanz des Englischen dazu, dass es quasi über-peers gibt: die anglophonen Wissenschaftler/innen sind funktional die höchste Instanz – sie sprechen die entscheidenden Urteile. Und die Unmenge dessen, was sie nicht rezipieren, verfällt eben. Der oft mangelhaften Meisterung des Englischen durch Non-Anglophone entspricht dieses ebenfalls wesentlich linguistisch determinierte Nicht-Wahrnehmen-Können der Nur-Anglophonen.23

Es ist leicht zu sehen, dass es nicht zuletzt aus diesen Gründen schwierig ist, neue Themen und Verfahrensweisen und Theorien zu finden und zu entwickeln.24 Die Formel, dass sich Stammesgewohnheiten nur langsam ändern, scheint ange- bracht. Solche Gedankengänge legen Hypothesen darüber nahe, warum gewisse – drängende – historiographische Probleme vernachlässigt bleiben. Den Hauptgrund sehe ich im Mangel eines „historiographischen Komparatismus“, was vielleicht für einen Österreicher wegen der multi-lingualen und multi-ethnischen Geschichte des früheren Imperiums besonders augenfällig ist. Es ist aber auch richtig, von einer

„Mauer des Vergessens“ zu reden (Verdrängen wäre vielleicht ein zutreffende- rer Begriff), obzwar hier die Geschichtswissenschaften auf Fortschritte verweisen können – allerdings nicht überall im gleichen Ausmaß. Das wird an der Verwick- lung in Faschismus/Nationalsozialismus am deutlichsten, die sich keineswegs nur in Deutschland und Österreich manifestiert. Im Hinblick auf die bloodlands25 ist inzwi- schen einiges klar geworden, aber auch anderswo wäre noch viel aufzuarbeiten.

Als case in point dient Frankreich, wo zwar die Mitverantwortung für den Holo- caust inzwischen bemerkt wird, aber das Vichy-Syndrom noch immer unvollkom- men aufgearbeitet ist. Paxtons Pionierarbeit hat hier nicht im wünschenswerten Ausmaß Konsequenzen gehabt (und liegt auch schon über vierzig Jahre zurück).26 Die vierte revidierte Auflage von Sternhells Ni droite ni gauche27 kompensiert diesen Umstand ein wenig, ändert aber nichts Grundsätzliches daran, dass die Mehrheit der Bücher über den Rechtsextremismus in Frankreich aus dem sogenannten angel- sächsischen Bereich stammt und in manchen einschlägigen französischen Publika- tionen euphemisierende Tendenzen erkennbar sind.28

Der Erwerb und die Weitergabe von Wissen sind abhängig von Regel- und Kon- trollinstanzen, die hauptsächlich außerhalb des Wissenschaftsbetriebs liegen. Dass Frankreich 1945 die Rolle einer Siegermacht plus ein permanenter Sitz im Sicher-

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heitsrat eingeräumt wurde, schuf eine Grundlage, die auch für das kollektive Selbst- verständnis aller im Wissenschaftsbetrieb Tätigen und nicht nur für staatliche Ins- tanzen dezisiv ist. Demzufolge beruhen also Themenwahl und entsprechende Behandlungsmethoden nicht nur auf wissenschaftlichem Ethos: sie sind vorpro- grammiert von Rahmen, die der „Super-Stamm“ Staat vorgibt. Es ist gefährlich naiv, solchem Sachverhalt zu wenig Augenmerk zu schenken. Die jeweilige „Zunft“ (ein Ausdruck, der, vor Jahrzehnten in Mode, etwas abgekommen ist) ist immer in Ver- suchung, sich Autonomie zuzuschreiben und übersieht allzu leicht, dass Forschung und Lehre eben vom Staat und seiner „symbolischen“ Macht(ausübung) in Form der Finanzierung abhängig sind. Was nur allzu oft (ein wenig im barthesianischen Sinn) als „natürlich“ empfunden wird29 – beispielsweise die Tradition, in die etwas eingebettet ist –, erweist sich als durch und durch politisch konstruiert und kann unter Umständen so autoritativ, ja oppressiv sein, dass es kaum Raum für Auswege gibt. Aus diesem Grund erscheint es unhaltbar, die Territorien und Stämme des Wissenschaftsbetriebs ohne explizite Bezüge auf die nationalstaatlichen Bedingthei- ten zu denken.

III – Das Zusammenwirken nationaler und „diziplinärer“

Programmierungen

Dem Wort Disziplin eignet eine merkwürdige Doppelbedeutung: Wissenszweig und Ordnungsgewalt. Das Zusammenlaufen der beiden Notionen wird im Wis- senschaftsbetrieb allerdings nur zu deutlich. Umgekehrt konnten wir soeben eine gewisse Diskordanz zwischen nationalen Prädispositionen wissenschaftlicher Fel- der einerseits und ihrer universalen Konstitution andererseits diagnostizieren.

Das, was symbolische Gewalt genannt wird, unterliegt mindestens zwei „Regimes“:

einem spezifischen soziokulturalen (und damit in praxi wesentlich nationalstaat- lich) verfassten Set von Regeln, Definitionen, Aufgaben sowie einem generellen und neutralen, das sich einer puren Definition der Wissenschaftlichkeit und der jeweili- gen individuellen Wissenschaft verpflichtet.

Es ist offenkundig, dass die erste Funktion eine konkretere ist; sie wirkt regulie- render als ein Ideal, das sich wesentlich auf ethische Kriterien beruft. Wenn Bour- dieu schreibt, „[…] l’usage du langage […] dépend de la position sociale du locuteur qui commande l’accès qu’il peut avoir à la langue de l’institution, à la parole officielle, orthodoxe, légitime“,30 hat er primär – was das Wort Institution deutlich anzeigt – jene erstgenannte Kontroll-Instanz im Auge, wirft damit aber auch implicite die Frage der Ethik wissenschaftlichen Sprechens auf. Soziale Position und Stellung im hierarchischen System: wenn die Institution aber Wissenschaft betreiben soll, ist

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bloß orthodoxe Legitimation, vom Nationalstaat quasi verliehen, jedenfalls unzu- reichend. Es wäre zwar falsch, dem generellen Wissenschaftsideal jegliche Autori- tät abzusprechen, doch gebietet Einsicht in die soziale Praxis, dass sich die dezisiven Definitions- und Dominanzspiele nicht primär aus ihm herleiten. Einfach gesagt, nationale Determinanten triumphieren über transnationale.

In ihrem Herrschaftsbereich, der durchaus territorial zu verstehen ist, bestim- men also Besitzer (oder wenigstens Verwalter) der Definitions- und sonstigen sym- bolischen Gewalten, was worüber auf welche Weise gesagt werden kann. In gewis- ser Weise und bis zu einem gewissen Grad erscheinen so die Macht innerhalb einer Disziplin und diejenige in einem gesamten Sprach- und Kulturbereich koexten- siv. Aber es bleibt ein Rest: Disziplinen verfassen sich, allen nationalen Gepflogen- heiten zum Trotz, global (wiewohl in unterschiedlichem Maß). Der „Reiz des Rei- nen“ und Moralischen, also wenigstens versuchter Abgehobenheit von den sozio- kultural-nationalen Geboten, hat Attraktivität. Die Praxis der Wissenschaft setzt sich damit internationaler wissenschaftlicher Kontrolle aus. Es handelt sich um die

„peers“. Aber es zeigt sich, dass es peers und peers gibt. Wie in jedem soziokulturalen System gibt es auch in der Wissenschaftler/innen-Gemeinschaft Hierarchien. Wer zahlt, befiehlt: der Anker nationalstaatlicher Eingebundenheit (Lohnabhängigkeit!) ist niemals wirklich zu lichten. Und die Gemeinschaft der peers ist ihrerseits nicht nur eine Kontroll-, sondern auch eine Disziplinierungsinstanz.

Die Koextensität verschieden definierter und instrumentalisierter Wissenschaft- lichkeit kann folglich nur einen betimmten Grad erreichen (z. B. „nationales“ In - teresse versus „reine Wissenschaft“). Nationalstaatliche Regelungen sind eine von zwei koexistierenden symbolischen Definitions- und Delimitierungs-Gewalten (die andere ist das hehre Ideal des reinen universalen Gewissens). Es ist zu befürchten, dass das erstgenannte Muster immer dominant bleiben wird. Grenzübergreifende peer reviews mögen ein exzellentes Beispiel für den Versuch sein, über die engere Determination hinaus zu gelangen. Aber sie haben ihrerseits gravierende, nur allzu offenkundige Schwächen. Staaten oder Kultur- und Sprachbereiche konkurrieren im Sinne „symbolischer Gewalt“ nach Bourdieu auf ähnliche Weise wie Wissen- schaftler/innen, und diese tun das international wie auch national.

Peer reviews – noch mehr das ranking universitärer Einrichtungen – sind ebenso auf Konkurrenz (und Rivalität) hin orientiert wie die jeweilige nationale Szene und die nationalen Szenen untereinander. Sohin können wir auch in puncto Ranking und peer reviews bestenfalls unvollkommene Lösungen erblicken. Einerseits wer- den nationale Prägungen (seien sie vorbewusst) immer hereinspielen, zum anderen ergibt eben die internationale Rivalität ihrerseits klare – möglicherweise sich über- ordnende – Interessenslagen. Zitierkartelle können Staatsgrenzen unschwer über- springen, das „Vorauslob“ großer Autor/inn/en auf den Waschzetteln großer Ver-

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lage ist auch nicht ohne, und die hierarchische Anordnung der Sprachen (ich habe bereits insinuiert, dass „kleine Sprachen“ eben bestenfalls eine kleine Rolle spielen) tut ein übriges.

Sozial- und kulturanthropologische Überlegungen geben über den Grad der Identifikation des/der jeweiligen Forschers/-in mit den Ordnungsrastern Auf- schluss. Die westfälisch-nationalstaatlichen Raster geben auch der Wissenschaft Grenzen vor, am deutlichsten in Form der Nationalgeschichten. Diese addieren sich nicht einfach (deutsche + französische etwa ergeben keine europäische Geschichte).

Zudem bauen die wissenschaftlichen Disziplinen im wesentlichen andere Krite- rien auf („Gegenstand“, Erkenntnisinteresse, Methoden etc.). Konflikte sind vorpro- grammiert: wer fühlt sich eher „seinem/ihrem Land“ verpflichtet (die Anführungs- zeichen drängen sich förmlich auf) oder der puren Wissenschaftlichkeit? Achtung indes: es wäre ein grober Irrtum, hier völlige Bewusstheit anzunehmen. Wir spre- chen auch, wiederum metaphorisch, von verschiedenen Kartographien. Eine ist also determiniert durch die klassischen Markierungen des westfälischen Systems, das die gültigen soziokulturalen Parameter immerhin approximativ vermittelt, die andere durch wissenschaftstheoretische Kriterien, die naturgemäß zur Globalität tendieren.

„Das Wissenschaftliche“ kann eben nicht separat vom „Gesamtgesellschaftli- chen“ gesehen werden. Auch ohne auf Foucault zurückzugreifen muss die Einbet- tung der wissenschaftlichen Praxis in die Netzwerke soziokulturaler und vor allem (in weitestem Sinn) materialer Praxis bedacht werden. Das Mischungsverhältnis soziokulturaler und wissenschaftstheoretischer Autorität kann jeweils nur im Ein- zelfall bestimmt werden. Daraus ergibt sich einmal mehr die emphatische Forde- rung nach komparatistischen Techniken: sie gestatten erst tendenziell generellere Aussagen, gleichwohl ohne jemals die Totalität unangreifbarer „Wahrheit“ zu gewin- nen. Das Dilemma der participant observation (Teilnehmende Beobachtung) ist seit langem geläufig; gerade deshalb kann die Forderung nach einer universalen Moral aufrechthalten werden. Sie muss allerdings postuliert und dann praktiziert werden, sie ist nicht einfach vorzufinden.

Selbst innerhalb dessen, was okzidentales Paradigma genannt werden kann, sind deutlich ausnehmbare Diskrepanzen auszumachen. Sie hängen, wie wir gese- hen haben, von linguistischen Loyalitäten ab, von der Fähigkeit, grenzübergreifend zu denken, von teils vorbewussten Aversionen oder Sympathien. Sie ergeben sich auch aus einer Reihe von anderen Faktoren, etwa aus ungleich schnellen Abläu- fen des Gewinns und der Verarbeitung von Wissen sowohl im sozialen Leben als auch in den Wissenschaften. (Le Roy Laduries Vision von immobiler Geschichte kommt in den Sinn, aber auch das Storia d’Italia Konzept von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.31) Das neue Paradigma der Renaissance – es wäre passender, Rinascimento zu sagen, da die entsprechende Dynamik in „Italien“ ihren Ausgang

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nimmt – scheint, mit einem Begriff von Greenblatt gesagt, eine generelle Umstellung vorzunehmen.32 Aber das scheint in gewisser Weise nur so: es ist weder ein Phäno- men, das geographisch zu fassen ist (Italien), noch ist es, soziologisch betrachtet, umfassend. Ebenso wenig vollzieht es sich eben überall mit dem gleichen Tempo, zu schweigen von Intensität, Sättigungsgrad, mit ähnlicher Dauerhaftigkeit.

Gemäß dem bisher Ausgeführten ist es in Bezug auf „Territorien“ angebracht, an Überlappungen zu denken. Das Geographische und Historisch-Kartographische rufen den Eindruck eines Homogenen und Kontinuierlichen hervor: ein und die- selbe Sache bis zur Grenze, lila oder rosa Farbe (ein Fünftel der Landmassen in letz- terer Farbe oder etwa die weithin unbewohnte Sahara lila – die „Besitzungen“ Bri- tanniens und Frankreichs). Aber in Wahrheit haben wir es mit einem Non-Uni- formen und Non-Kohärenten zu tun, mit einer Pluralität mehr oder weniger gut koexistierender Bedeutungssysteme, die unterschiedliche Bindekräfte aufweisen.

Das sind die berühmten Bezugsrahmen (frames of reference).

Es lohnt sich, die Frage noch einmal – und in aller Offenheit – zu stellen: Sehen sich Individuen, die eine bestimmte Staatsangehörigkeit haben, eher nationaler Solidarität verpflichtet oder, vom professionellen Gesichtspunkt her, wissenschaftli- chem Ethos? Und inwieweit können die zugrunde liegenden psychologischen Pro- zesse bewusst gemacht werden? Ich verweise zurück auf meine Erwähnung von Zev Sternheels Studie,33 anhand derer Gelegenheit war, auf eine Art double bind-Situa- tion der französischen Historiographie zu verweisen: dem „natürlichen“ Reflex zu folgen und die Geschichte Frankreichs zu akklamieren oder kritisch auf die dunklen und verdrängten Punkte zu insistieren.

Paradoxerweise haben es in dieser Hinsicht die deutschen und österreichischen Historiker/innen leichter, wenn auch auf recht fatale Weise. Dem NS-Syndrom war einfach nicht auszuweichen, und bemerkenswerterweise hat sich die Zunft alles in allem anständig verhalten und dem Ethos eindeutig den Vorrang vor anderen, frag- würdigen Kriterien eingeräumt. Für die Zunft – wollen wir bei diesem problema- tischen Begriff bleiben – ergibt sich daraus allerdings eine stärkere Distanzierung gegenüber ihrer Gesellschaft insgesamt: Die Diskordanz der Auffassung der „Profis“

zur landläufigen Meinung der breiten Massen ist in diesen Fällen größer als in vor- stellbaren Vergleichsbeispielen. (Es ist so – an einem US-Beispiel verdeutlicht –, als stünden gewissermaßen blue state Historiker/innen einer gänzlich red state verfass- ten Gesellschaft gegenüber.)

In direkter Gegenüberstellung frankophoner und germanophoner Historio- graphie weisen in der erstgenannten generell national-kulturale Muster gegenüber generell ethisch orientierten eine markantere Prävalenz auf als in letzterer. Anders gesagt, französische Forscher/innen (die in einem Ausmaß das Gros der francopho- nie darstellen, dass belgische, schweizerische, kanadische frankophone Arbeiten

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quantitativ unwesentlich erscheinen) sind deutlicher eingebettet in einen gesamt- gesellschaftlichen Konsensus: Die nationalstaatliche Kohärenz (im Sinne einer Art

„motivation républicaine“) ist im Vergleich größer als bei den fragmentierten Identi- täten und Legitimitäten im deutschsprachigen Bereich.34

In jedem Fall erscheint „das Territorium“ bedeckt von verschiedenen Folien (Gender,35 Nation, Sprache, politische Orientierung etc.), die sich nicht nur unter- schiedlich überlappen, sondern auch unterschiedlich durchsichtig sind. Aus der Frage, welcher dieser legimititätsstiftenden und emotional motivierenden „Folien“

bewusst und unbewusst man/frau sich verpflichtet fühlt, ergibt sich eine weitere.

Wie weit können prinzipiell diverse  – mitunter divergierende, ja potentiell kon- tradiktorische – Loyalitäten überhaupt koexistieren? Orientiert sich etwa eine fran- zösische Historikerin nach ihrer politischen Überzeugung (die vorbewusst ein- fließen kann), nach ihrem Pass respektive nach dem Nationalstolz (ja, den gibt es auch noch), nach wissenschaftstheoretischen Optionen, nach dem Umstand, dass sie französisch und nicht etwa englisch oder deutsch oder italienisch schreibt, oder nach ihrem Geschlecht – und in welchem Mischungsverhältnis? Der entscheidende Punkt ist hier natürlich, dass das bei männlichen „Professionisten“, außer hinsicht- lich des Gender, nicht viel anders aussieht; allenfalls könnten die Standard-Stereoty- pisierungen (z. B. maskulin versus feminin) konformer sein, weil sie Schein-Sicher- heiten bieten.36

Diese übereinander gelegten Folien ihrerseits zweifelhafter Kartographien fran- sen also gegen ihre Ränder hin aus (immer noch Metaphern, wie auch Territo- rium und Stamm Metaphern sind).37 Es ist vorzuziehen, an Übergangszonen statt an Grenzlinien zu denken. Und ähnlich gibt es nie nur die „feminine“ oder „mas- kuline“ Schablone, sondern ebenfalls nur Mischformen. Die zahllosen Schattierun- gen zu denken, die jeglicher Aussage (auch jeder historiographischen) zugrunde lie- gen, ist tendenziell unmöglich, sollte aber zumindest angestrebt werden. Es gibt nicht nur „Stammesgewohnheiten“ und Gender-Programmierungen, sondern auch unter- einander konkurrierende Weltbilder, die sich temporal staffeln, aber auch simultan.

Die Ablöse eines eben noch gültig scheinenden Paradigmas erfolgt nicht in einer klaren Zäsur. Und der jeweils gegenwärtige Wissenschaftsbetrieb ist der Schauplatz von Dominanzkämpfen, die nicht nur personenzentriert, sondern auch disziplin- orientiert sind, will sagen, die prävalenten (Sub-)Disziplinen sind eine Funktion der Motive derjenigen Personen, die sie vertreten, durchsetzen, als Leitbilder installieren.

Die herrschenden Paradigmata werden von jenen Stämmen getragen (es ist nie nur ein einzelner, die Kämpfe zwischen den Stämmen entsprechen denen um die jeweilige Führungsspitze), die sich am überzeugendsten durchzusetzen wissen.

Aber: überzeugend wodurch und für wen? Leicht abgewandelt ist nun abermals eine Grundfrage zu stellen: Sind die Stämme des Wissenschaftsbetrieb doch nichts als

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eine Subkategorie der übergeordneten – mangels eines geeigneteren Worts – Natio- nalkulturen? In diesen sind es die jeweiligen establishments (der Begriff ist ein wenig aus der Mode gekommen), die die Dinge definieren, regulieren, kontrollieren, diszi- plinieren. Foucaults Surveiller et punir kommt in den Sinn.38 Wir können noch kon- kreter – und gegenwärtiger – werden. Wie sind die Eliten der Gegenwart verfasst?

Wer oder was macht sie zu Eliten? Ohne zynisch zu sein, kann gesagt werden, dass es sich wesentlich um Selbsternennung handelt. Ihnen selbst zufolge ist es allerdings ihre supreme Intelligenz und Kompetenz; aber die Frage ist natürlich, ob das Auto- deklarative und Autodekretierte nicht ein dead give-away ist.

Es hat den Anschein, dass im internationalen Wettbewerb verschiedene „nati- onalkulturale Eliten“ miteinander konkurrieren. Man/frau dächte wohl zunächst an die Ostküsten-Universitäten der USA (plus Stanford und einige wenige andere) oder an „Oxbridge“, vielleicht an die sogenannten Großen Schulen (grandes écoles) in Frankreich. Das ist ja ein Hauptmotiv bei Tony Becher. Letztere nehmen bekannt- lich in entscheidenden Punkten, vor allem hinsichtlich der immer wieder angespro- chenen Erzeugung von Eliten die Rolle ein, die anderswo Universitäten spielen.39 Aber nicht alle Universitäten haben international die gleiche visibility.

Die Verhältnisse in Frankreich sprechen eine deutlichere Sprache als anderswo:

Die staatlich produzierten und programmierten Eliten fühlen sich als ganz außeror- dentlich legitimiert, sie halten sich, sogar ehe sie sich konkrete Verdienste erworben haben, für eine Meritokratie und manifestieren ein korrespondierendes Gefühl von entitlement. Das ist nicht zuletzt das Resultat einer im „Hexagon“ intensiv empfun- denen Konkurrenz mit dem angelsächsischen Bereich. In gewisser Hinsicht haben wir es hier tatsächlich mit einem Krieg zu tun, einem Krieg, der mit den Mitteln der symbolischen Gewalt ausgetragen wird. Das wahrscheinliche französische Veto gegen ein mögliches Freihandelsabkommen USA–EU bietet eine klare Illustration:

die Besonderheit Frankreichs („l’exception culturelle“) müsste französischer Auffas- sung zufolge a priori hors déliberation gestellt werden. Im Zusammenhang damit ist auch die Gegenstellung zum „single European sky“ zu sehen, der ökonomisch und ökologisch ebenso wie vor allem in puncto Flugsicherheit erhebliche Vorteile brächte.

Aber das prinzipielle Denken von Ausnahmen – „Sonderweg“, „exception cultu- relle“ etc. – ist, gelinde gesagt, merkwürdig. Jeder Staat, jede Gesellschaft hat ihre Spezifizitäten, und es ist untunlich, sich selbst eine außergewöhnliche, übergeord- nete und qualitative höherrangige Stellung zuzusprechen; das lässt allzu leicht auf einen kollektiven complexe de supériorité (der auch leicht sein Gegenteil signifizie- ren kann) oder ähnliche Symptome schließen. Außerdem scheint folgende Regel zu gelten: Kleine Staaten werden nicht als bedeutsam genug angesehen, um spe- zielle Wege (in der Geschichte) zu gehen. Es handelt sich hier um mehr als bloße

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Stammesfehden. Vielleicht sollte man von „Super-Stämmen“ reden und die größten unter ihnen schreiben sich selbst am meisten Bedeutsamkeit zu?

Gemäß dem bisher Ausgeführten ist folgende Frage zu formulieren: Gibt es Hie- rarchien von (kollektiven) Zugehörigkeitsgefühlen, also von Sentiments von Iden- tität und Identifikation? Wir haben, aus verschiedenen Perspektiven, bereits die wesentlichsten dieser Bindungen erörtert: Sprache, Geschichte, Klasse, Gender.

Niemand identifiziert sich allein nach dem Kriterium von Territorien im eigentli- chen Wortsinn – und nicht einmal nach dem territoire des historiens (gestattet das Französische schon die Form historienne? Insofern ist also die Metapher Territo- rium im Bezugsfeld Historiker/innen durchaus irreführend. (Im Übrigen haben wir

„Stamm“ ja bereits differenziert: Der Begriff kann sich auf linguistische Familien beziehen, auf Kasten und Kader, auf alle möglichen in-groups und peers, etc., etc.)

Die Problematik eines Moralischen, das Ethos des Wissenschaftlichen, sie sind, nach einer langen pragmatizistischen Phase, in den letzten Jahren wieder öfter aufge- griffen worden. Wir alle nehmen, bewusst oder vorbewusst, entsprechende Orien- tierungen vor – und sei es nur in Form der Wahl eines möglichst weitgehenden Ver- zichts darauf. In der Tat ist die oben bereits angesprochene Entscheidung, sich etwa der Faschismusforschung und insonderheit dem Holocaust zuzuwenden, wesent- lich auch eine moralische. Was dabei unter Umständen fehlen kann, ist eine gene- relle und systematische Orientierung. Ursache dafür ist ein antitheoretischer Trend der historischen Wissenschaften, der – teils im Zuge eines mangelhaft verstandenen Utilitarismus – auf Effizienz, Praktikabilität und ein „rein Empirisches“ fixiert war.

Aber täuschen wir uns nicht: Orientierungen werden auf jeden Fall vorgenommen, es geht darum, die Entscheidungen so weit wie möglich bewusst zu machen, nur dann vermögen sie eventuell zu begründen sein.

Ich möchte dafür den Begriff Dezisionismus vorschlagen. Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem man/frau sich entscheiden muss: für eine Sache, eine Methode, eine Politik, eine Moral – ein Leben. Und es ist besser, wohlüberlegt zu wählen und die Begründbarkeit im Auge zu behalten.

IV – Kanon und Kooptation, Kohäsion und Karriere

Im akademischen Bereich können Schulenstreite, alle möglichen Kontroversen, mehr oder weniger gelungene Generationsablösen, Paradigmenwechsel und das Dominanzstreben einzelner Wissenschaftler/innen die Kohäsion eines Feldes erheblich beeinträchtigen. Die Regelungskompetenz ist als Funktion des gegensei- tigen Verstehens unter den peers zu sehen. Der Balanceakt ist schwierig: Der jewei- lige Kanon muss so weit stabilisiert werden, dass seine Bindekraft nach innen und

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seine Überzeugungskraft nach außen Weiterexistenz ermöglichen; er muss ande- rerseits genügend flexibel sein, um auf aktuelle Anforderungen adäquat reagieren zu können. „Aktualität“ ist hier eher im Sinne von Relevanz zu verstehen als ledig- lich in Bezug auf Modisches, obwohl realistischerweise auch letzterem Bedacht zu schenken ist.

Die Kooptation neu Aufzunehmender – scheuen wir uns hier nicht, von einer eng geknüpften Gemeinschaft zu reden, für die es mehrere Umschreibungen gibt:

Zunft, Stamm bis hin zu unerfreulicheren wie Koterie oder Kamarilla oder erfreuli- cheren Phänomenen wie beispielsweise den Ehrenkodex, anschaulich ausgedrückt in der kanadischen iron ring Tradition der Ingenieure40 – muss folglich mehreren Kriterien entsprechen. Die Rekrutierung muss Bedacht nehmen auf jene Balance (oder Dialektik) von Innovation und Tradition. Damit muss gleichwohl eine Wette auf die Zukunft abgeschlossen werden. Weder kann gewusst werden, wie sich die Dinge weiter entwickeln, noch ist mit Sicherheit zu sagen, wie sich der/die neu Aufzunehmende verhalten wird.

Naturgemäß haben es hier die „soft sciences“ viel schwerer als die technischen Fächer und die Naturwissenschaften. Es ist unschwer festzustellen, ob ein/e Kandi- dat/in, sagen wir, in Astrophysik etwas taugt, es ist schwieriger, tatsächliche Quali- tät in einem philologischen Fach eindeutig zu beurteilen, vor allem wenn sie sich (natur)wissenschaftliche Mäntelchen umhängt.41 Daraus ergibt sich nicht zuletzt, dass das, was Bourdieu und Passeron Reproduktion genannt haben, in den Human- wissenschaften auf spezifische Weise problematisch ist.42 Die Sache wird dadurch kompliziert, dass die neu zu Rekrutierenden zu den künftigen Verwaltern des „kul- turellen Kapitals“ (wie Bourdieu immer sagte) gehören werden. Ich habe aus solchen Gründen bereits mehrere Male auf die Rolle des Staates verwiesen, der die Rahmen- bedingungen des zugrunde liegenden soziokulturalen Kanons vorgibt. In manchen Fällen werden diese wie Glaubensinhalte gehandelt. Die Selektion der „Erben“ (wie Bourdieu und Passeron in einem anderen Buch sagen43) nimmt dergestalt Rücksicht auf eine nahtlose Fortführung dessen, was „immer schon“ gültig war. Die Selek- tion weist ein deutlich beharrendes Element auf; in extremen Fällen kann das, wie in Frankreich gesagt wird, zu pétrification (Versteinerung) führen, ohne dass aller- dings diese Selbstkritik zu merklichen Konsequenzen führen würde. Die Reproduk- tion führt ganz einfach zu Immobilität, um ein Wort Barthes' zu paraphrasieren.44

Die nationalen Spezifika gehören zu jenen verschiedenen Folien, die zusammen im Eindruck korrekter Kartographie resultieren. Sie legen sich, wie gesagt, über- einander. Die daraus resultierenden Eindrücke scheinen Verpflichtungen nahezule- gen. Ihr Zusammenspiel entscheidet, was weswegen im jeweils in Frage stehenden wissenschaftlichen Feld (oder Territorium) mehr oder weniger Bedeutung hat. Das französische Beispiel hat uns mit großer Deutlichkeit gezeigt, dass eine „nationale

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Präferenz“ einen override-Effekt über andere Loyalitäten gewinnen kann. Ich bin beileibe nicht der der Einzige, der behauptet, die Eliten (die Pariser „intellektuellen Eliten“ also) betrachteten sich als Sachwalter des gesamten Landes; sie fühlen sich legitimiert, entitled. Mit Fug und Recht wird man/frau an ihrer Kompetenz Zweifel anmelden. Auch das ist von Bourdieu bereits deutlich ausgedrückt worden.45

Territorien, die eigentlich  – im Sinne der commons  – von der Allgemeinheit besetzt und besessen und verwaltet werden sollten, können immer mehr quasi als Privateigentum einer privilegierten Kaste empfunden werden. Diese fühlt sich allerdings berufen, also qualifiziert genug und folglich autorisiert, die (politischen) Entscheidungen und (wissenschaftlichen) Definitionsleistungen zu erbringen. „Si les aristocraties n’aiment jamais les parvenus, ce n’est pas seulement par un de ces réflexes qui est au principe de toute espèce de numerus clausus, c’est surtout que, par leur réussite trop rapide […], ces tard-venus arrivistes rappellent la violence arbitraire qui est au principe de l’accumulation initiale“, schreibt Bourdieu.46 Solche Analysen führen zu der Einsicht, dass das Politische letzten Endes der dezisive Refe- renz-Rahmen auch allen Wissenschaftlichen ist – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß je nach Soziokultur, Sprachbereich, Staat. Das resultiert im Risiko fataler und permanenter Reaffirmation des Bestehenden.

Differenzierungen ergeben sich aus den Spezifika der Kooptation und der jewei- ligen Profundität und Intensität der Identifikationen der neu Rekrutierten. Je stär- ker die Identifikation mit „der Nation“ oder „dem Staat“, desto größer die Gefahr – es ist unmittelbar evident –, dass Kriterien der Wissenschaftlichkeit zu kurz kom- men. Allzu oft sind sie nachrangig gegenüber politischen (auch parteipolitischen) Vorgaben. Die deutsche (und in dieser Hinsicht auch die österreichische) Tradition haben uns in dieser Hinsicht einiges anschauen lassen, und ich habe den Eindruck, dass Lehren daraus gezogen worden sind. Generell geht es darum, ob respektive in welchem Ausmaß peer pressure, wie vorbewusst auch immer, prädominant politisch oder szientifisch motiviert ist. Aber verfallen wir nicht in den Irrtum, dass das Szien- tifische jemals „politikfrei“ sein könnte. Es geht um die dezisionistische Palette: Wer wählt wie, und inwieweit ist er/sie sich in welchem Ausmaß der getroffenen Wahl bewusst?47

Die Regelung durch die (szientifischen) peers ist also ihrerseits eingebettet in und abhängig von umfassenderen Bezugsrahmen. (Wohlgemerkt: ich verstehe peers in diesem Kontext in Entsprechung zu „peer reviews“ – die Qualitätskontrollen dar- stellen sollen –, nicht im Sinne der hard-wired peer pressure, die von früher Kindheit an Verhaltensformen dirigiert.) Die in letzter Zeit häufig und mit Besorgnis disku- tierten identity politics spielen zweifellos ebenfalls eine bedeutende Rolle; sie weisen eine entfernte Ähnlichkeit mit peer pressures auf, ohne mit ihnen identisch zu sein.

Auf welche Weise ist aber jeweils zu ermitteln, wie (geschichts-)wissenschaftliche

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Tätigkeit, unter Druck (pressure), gerade auch mit politischer Einstellung in Zusam- menhang steht? Ethos und Moral kommen zumindest dadurch ins Spiel, dass die Frage gestellt werden muss, wie die (von Bourdieu angesprochenen) autodefinierten sozialen und soziokulturalen Interessen, vertreten durch effiziente pressure groups, zu rechtfertigen sind.

Noch bis vor wenigen Jahren wurde die Auffassung vertreten, dass die (Zweite) Globalisierung das Paradigma grundlegend verändern werde. Aber tatsächlich scheint ein Neo-Nationalismus zu erstarken, dessen frühere Formen schon 1914 die Erste Globalisierung zunichte gemacht haben. Das zunehmende Rekurrieren auf nationale „Souveränität“ (gerade etwa in Frankreich) und die Renationalisierung der Kapitalmärkte (die unheilige Allianz von Staatsschulden, die von den Banken des eigenen Landes finanziert werden, wobei letztere dann wieder vom Staat aufge- fangen werden müssen) sind dafür die alarmierendsten Anzeichen. Damit wird der Einfluss der „nationalen Eliten“, der im Zuge eines Transnationalismus zu schwin- den schien, wieder größer. Hobsbawm sah den Nationalismus als Ausdruck der Politik der herrschenden Klassen – was ja fast eine Tautologie darstellt –, woraus auch folgte, dass man/frau für die Gobalisierung sein müsste. Es muss nicht nur eine Internationale von Kapital und Kommerz geben, wie immer unterstellt wird, es kann auch eine der Gerechtigkeit und Chancengleichheit sein; und der sozio-kultu- rale (utopistische?) Wunschtraum kann auch die Wissenschaften umfassen.

Es ist nicht schwer, einen Widerspruch zwischen den etatistisch und den glo- balistisch orientierten Paradigmata zu postulieren, was bedingt Rawls’ Differenzie- rung decent vs. liberal peoples entspricht.48 Wie steht das mit dem Wissenschafts- betrieb in Zusammenhang? Wir haben den staatlichen Rahmen, also gewisserma- ßen sein eindeutig abgrenzendes Territorium, vor allem in „symbolischer“ Hinsicht, bereits ausführlich in Betracht gezogen. Egal ob es sich um das gesamtgesellschaftli- che Wohl oder die vernünftige, geistiges Wohlbefinden versprechende wissenschaft- liche Tätigkeit handelt, gibt es – bedauerlicherweise – immer noch unübersteigbare Einengungen und Grenzen. Die Grenzbefestigungen werden sogar schon wieder höher. Es mag zwar, wie Dworkin sagt, „dramatic changes[s] in political bounda- ries“ geben,49 aber das Erzielen eines „good life“ wird noch immer oft genug an Been- gungen aller Art zu Schanden.

Demgemäß ist die politische Landkarte die Vorgabe an die Wissenschaften.

Konkret geht es darum, wer mit welchem Anspruch auf Legitimität die Grenzen, alle Grenzen, vorgibt, und wer, aus welchen loyalitäts- und „solidaritäts“-abhängi- gen Motivationen, diese Grenzen respektiert oder zu überschreiten trachtet. Wenn ich nun von „symbolischen Grenzen“ (ein wenig im Sinn Bourdieus) spreche, so spiele ich damit auf jene Definitionen an, die als „natürlich“ und selbstverständ- lich gelten, aber in Wahrheit vorgegeben sind durch nicht kritisch geprüfte Traditio-

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