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Burkert-Dottolo: Ein Plädoyer für die Einbindung der zivil couragierten Bürger/innen

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FORUM PARLAMENTNr. 1/2003

Parlament im Wandel – offenes Parlament?

FORUM P A RLAMENT Jg. 3, Nr . 2/2005

FORUM PARLAMENT

Burkert-Dottolo: Ein Plädoyer für die Einbindung der zivil couragierten Bürger/innen

Bruckmüller: Wurzeln des modernen Parlamentarismus Rathkolb: Das Parlament als Ort des Gedenkens und der

Vergangenheitspolitik

Hamann: Das Palais Epstein im Lauf der Geschichte Janota: Parlament in neuem Gewand. Neuer Eingang

und verbesserter Zugang

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1. Vorlage von Manuskripten

Beiträge für das FORUM PARLAMENT sollen originale, unveröffentlichte Arbeiten sein, die nicht anderswo zur Veröffentlichung vorgesehen sind. Über die Annahme entscheidet die Redaktion. Die Autorinnen und Autoren werden gebeten, drei Ausdrucke ihres Beitrags an die Redaktion des FORUM PARLAMENT zu schicken. Nach Rücksprache kann die Übermittlung des Beitrags auch per e-mail/Attachment erfolgen (Mag. Barbara Blümel, MAS (PR), Parlamentsdirektion, A-1017 Wien; Tel: 01/40 110-2495, [email protected]).

Der gespeicherte Text sollte sowohl in einer Version des Programms WORD als auch als Rtf-File zur Verfügung stehen. Achten Sie bitte darauf, dass das gedruckte Manuskript und die Disketten- (bzw e-mail-)Version vollkom- men übereinstimmen.

2. Form der Manuskripte

Die Beiträge dürfen die von der Redaktion gemäß dem Redaktionsplan festgelegte Länge (einschließlich Anmer- kungen, Tabellen/Abbildungen und Literaturangaben) nicht überschreiten.

a) Adressen: Angabe der Postadresse, Telefonnummer, Faxnummer und e-mail-Adresse.

b) Text: Der Text soll auf DIN-A4-Papier geschrieben sein, 2-zeilig (dh in etwa 30 Zeilen mit je 60 Anschlägen pro Zeile) und mit breiten Rändern. Schreiben Sie linksbündig und führen Sie keine Silbentrennung durch. Kursiv- Schrift, um Worte oder Passagen hervorzuheben, ist zulässig, sollte aber nur in Maßen eingesetzt werden.

c) Geschlechtsneutrale Formulierungen: Soweit möglich sollen durchgängig geschlechtsneutrale Formulierun- gen angewendet werden.

d) Neue Rechtschreibung: Deutschsprachige Beiträge müssen den neuen Rechtschreibregeln entsprechen.

Zitate sind jedoch weiterhin in der Schreibweise des Originals zu belassen.

e) Tabellen/Abbildungen: Zunächst ist bitte mit der Redaktion abzuklären, ob für diesen Beitrag Tabellen und Abbildungen vorgesehen sind. Wenn ja, sollen Tabellen und Abbildungen nicht in den Text eingefügt, sondern auf gesonderten Blättern am Ende des Textes angefügt werden. Sie sind fortlaufend zu nummerieren sowie mit Überschrift und Quellenangabe zu versehen. Bezeichnen Sie die gewünschte Position der Tabellen und Abbildungen im Text (zB mit „Tabelle 3 ungefähr hier“).

f) Gliederung der Texte: I/A/1/a; Namen kursiv (im Text und in den Fußnoten);

g) Zitierungen und Abkürzungen sind nach Friedl/Loebenstein „Abkürzungs- und Zitierregeln der österreichi- schen Rechtssprache5“ vorzunehmen: Fußnoten sollen kurz sein und, fortlaufend nummeriert, als End-Noten gedruckt werden, dh auf gesonderten Blättern am Ende des Textes; keine Vornamen im Fußnotenapparat;

Erstzitate: Name, Titel (auch bei Beiträgen in Zeitschriften; bei Sammelwerken auch Titel des Sammelwerks selbst), Jahr, Fundstelle (kein Erscheinungsort); Folgezitate: Name (FN …) …

h) Kurzbiographie: Gemeinsam mit dem Manuskript soll eine kurze biographische Notiz vorgelegt werden (Geburtsjahr, berufliche Tätigkeit, hauptsächliche (Forschungs-)Interessen, ev aktuelle Publikationen, Adresse für Korrespondenz, e-mail-Adresse).

3. Belegexemplare

Die Autorinnen und Autoren erhalten drei Belegexemplare des entsprechenden Heftes.

4. Urheberrechte

Die in dieser Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken und ähnlichen Einrichtungen. Kein Teil dieser Zeitschrift darf außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ohne schriftliche Genehmigung der Schriftleitung in irgendeiner Form – durch Photokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. Auch die Rechte der Wiedergabe, insbesondere durch Vortrag, Funk- und Fernseh- sendungen, im Magnettonverfahren oder auf elektronischem, digitalem oder ähnlichem Wege, bleiben vorbe- halten. Sämtliche mit der Beilage FORUM PARLAMENT in Verbindung stehenden Rechte verbleiben bei den Autorinnen und Autoren, soweit dem nicht zwingende Erfordernisse gemäß den Aufgaben der Parlamentsdirek- tion oder gesetzliche Hindernisse entgegen stehen.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw in dieser Zeitschrift berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Waren- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von Jedermann benutzt werden dürften.

Eigentümer & Copyright-Inhaber: © Republik Österreich, Parlamentsdirektion Wien

Die Redaktion

Hinweise für Autorinnen und Autoren

Titelbild: Statue der Pallas Athene vor dem Wiener Parlament, © Parlamentsdirektion ISSN 0943-4011

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FORUM PARLAMENTJg. 3, Nr. 2/2005

Editorial

Die Parlamentarier/innen haben die Aufgabe, Gesetze zu beraten und zu beschließen, Regie- rung und Verwaltung zu kontrollieren sowie an der Vollziehung mitzuwirken. Die Aufgaben selbst ändern sich kaum, aber die Art und Wei- se wie diesen nachgekommen wird, ist einem beträchtlichen Wandel unterworfen. Die vor- liegende Ausgabe des FORUM PARLAMENT will diesem Wandel nachspüren.

Günther Burkert-Dottolo widmet sich in seinem Beitrag dem/der modernen Bürger/in und betont die Wichtigkeit des Vertrauens zw Regierenden und Regierten. Um dieses zu schaffen und aufrecht zu erhalten, bedarf es aber nicht nur einer weitergehenden Öffnung der politischen Prozesse sondern auch des En- gagements der Bürger/innen. Mit Ernst Bruck- müller richten wir unseren Blick dann weit zu- rück in die Vergangenheit, was eindrucksvoll zeigt, dass die Wurzeln des modernen Parla- mentarismus auch für unser heutiges Verständ- nis wichtig sind. „Selbstkritisch die Reflexion über Geschichte mitzudenken, da letzlich die zukünftige Entwicklung auch von der Ge- schichte beeinflusst wird – gerade in Zeiten rasanter Integration und Globalisierung“, for- dert auch Oliver Rathkolb in seiner Ausein- andersetzung mit dem Parlament als Ort des Gedenkens und der Vergangenheitspolitik. In

eben diesem Spannungsfeld bewegen sich auch die Beiträge von Brigitte Hamann und Maria-Luise Janota. Das Palais Epstein wird ab Oktober 2005 vom Parlament genutzt werden – nicht nur für Sitzungen. Es wird auch eine dauerhafte Ausstellung über die Geschichte des Palais’, die Familie Epstein sowie den Bei- trag des Judentums zur österreichischen Kultur und zur Gestaltung der Wiener Bauwerke um die Jahrhundertwende geben. Brigitte Ha- mann stellt kurz die wechselvolle Geschichte des Palais’ dar. Maria-Luise Janota widmet sich dem Bemühen, den Umbau der Parlaments- rampe und des Palais’ auch dafür zu nutzen, das Parlament näher an die Bürger/innen zu bringen. Neben der Information über und durch das Parlament, haben Bürger/innen aber auch die Möglichkeit, sich mit ihren Anliegen an das Parlament zu wenden – Barbara Blümel beleuchtet daher in der Rubrik des „Parlamen- tarischen Schlagwortes“ Petitionen und Bür- gerinitiativen.

Abschließend wird über die Verleihung des ersten Wissenschaftspreises der Margaretha Lupac-Stiftung für Parlamentarismus und De- mokratie und die Quellensammlung Verfas- sungsreform berichtet.

Georg Posch Schriftleitung

Deskriptoren: Bürger/in; Demokratie; Kultur, politi- sche; Mitentscheidung; Partizipation.

Sitzt man im Gastgarten des Café Landtmann, vis-à-vis vom Burgtheater an der Wiener Ring- straße, und lässt den Blick Richtung Rathaus- platz und Volksgarten schweifen, blieb man die letzten zwei Jahre zwangsläufig an der riesigen Baustelle vor dem Haupteingang des Parla- mentsgebäudes hängen. Das Interesse galt

Günther Burkert-Dottolo Ein Plädoyer für die Einbindung der zivil

couragierten Bürger/innen

den Kränen und Baumaschinen, den riesigen Erdlöchern, den schweren Betonwänden, viel- leicht sogar der verhüllten Pallas Athene. Die – zugegebenermaßen – imposante Baustelle er- regte Interesse. Aber was ist mit den Inhalten hinter der Fassade? Bewegt und interessiert das Geschehen im Inneren – im Sitzungssaal des Nationalrates und des Bundesrates, im historischen Sitzungssaal des Abgeordneten- hauses aus dem 19. Jahrhundert, in dem die

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ARLAMENT, Nr. 0/2002FORUM PARLAMENTJg. 3, Nr. 2/2005

Bundesversammlung tagt, und in den zahlrei- chen Ausschuss-Lokalen, in denen die parla- mentarische Arbeit vorwiegend stattfindet – noch jemand? Oder gilt das Interesse ohnehin nur mehr der Architektur? Sind die politischen Finten und Abstimmungstricks, die in stunden- langen Besprechungen erarbeiteten ge- schäftsordnungsgemäßen Strategien für Fra- gestunden und andere politische Debatten wirklich noch zeitgemäß? Nimmt die ausge- klügelte Redner/innenliste für das Plenum – abgesehen von den personellen Eitelkeiten hinsichtlich der Präsenz während der Fernseh- übertragungszeiten – noch irgendjemand wahr? Ist es ohnehin egal, wer nun die Zustim- mung zu untermauern oder die Ablehnung zu begründen hat? Die Reduzierung des Inhaltes auf einen Redner wäre da vielleicht sogar spannender und böte eine tauglichere Zusam- menfassung der Pro- und Contra-Argumente zu den jeweils an der Tagesordnung stehenden Themen. Die Spannung der Elfmeterverant- wortung könnte hier Einzug halten.

Politische Kultur

Saß man vor 80 Jahren im Café Landtmann – gutbürgerliche Herren werden wohl dominiert haben –, dann hielt man meist die Abendaus- gabe einer der zahlreichen Tageszeitungen in der Hand und las die seitenweise und minu- tiös abgedruckten stenographischen Proto- kolle der Sitzungen des Nationalrates vom gleichen Tag. Heftige politische Debatten re- flektierten damals im Café die Ereignisse im Gebäude schräg vis-à-vis, begnadete Satiriker schrieben ihre Kommentare zu spannenden politischen Auseinandersetzungen. Die Ge- sellschaft bezog Position, oft öffentlich durch Kleidung oder politische Symbole zur Schau getragen. Das öffentlich couragierte Eintreten für seine politische Anschauung, meist auch für eine Partei, gehörte geradezu zur Selbst- verständlichkeit politischen Handelns in die- ser Zeit.

Die schrecklichen Ereignisse und furchtba- ren Auswirkungen politischen Fanatismus’, die in den 1930-er und 1940-er Jahren Stadt und Staat prägten, führten nach 1945 geradewegs zur Mentalität des Herrn Karl: „Nur kane Welln schlog’n!“

Geordnetes Einfügen in die beiden Volks- parteien ÖVP und SPÖ und in deren Vorfeldor- ganisationen – ÖAMTC/ARBÖ, UNION/ASKÖ, Alpenverein/Naturfreunde uä – war angesagt.

Parlamentarische Debatten wurden zwar ver- folgt, die beiden Volksparteien waren aber darauf bedacht, dass nichts Außerordentliches passieren konnte. Als sich auch noch das dritte Lager parteipolitisch organisieren durfte, war die Erstarrung der aufgeteilten Republik per- fekt: ruhiges Bürgerleben in einer verantwor- tungslosen Umwelt, betreut von den Parteien und ihren Wunscherfüllungsritualen vor jeder Wahl – auf bundesstaatlicher oder regionaler Ebene – führte zu einer Versorgungsmentali- tät, gestützt und geschützt von einer Rege- lungsflut und einer immer mehr verfeinerten Rechts- und Verwaltungsordnung. Zwangs- staatliche Versorgungswerke waren der Ren- ner schlechthin. Einige zivil couragierte Auf- bruchsbewegungen wie das (künstlerisch und kaum politisch geprägte) 1968-er Lüfterl oder die zum Mythos stilisierte Besetzung eines Auwaldes in Hainburg waren die einzigen nen- nenswerten Regungen einer außerhalb der etablierten Parteien angesiedelten Aktivität.

Die Besetzung der Au führte schlussendlich ja zur einzig wirklichen neuen Parteigründung in der freien Zweiten Republik, neben den Ab- spaltungen und Umbenennungen etablierter Politiker/innen.

Mit der zunehmenden Komplexität des po- litisch zu gestaltenden bzw zu verwaltenden Geschehens wuchs gleichzeitig die Vorstellung bei den handelnden Politikern/-innen, dass diese den Wählern/-innen ohnehin nicht zu- mutbar – da unverständlich – sei. Deshalb sind die einführten Elemente der direkten Demo- kratie, wie Volksabstimmungen oder Volks- begehren, auch mit so umfangreichen Ein- schränkungen und Hürden versehen1. Vor dem Hintergrund der NS-Zeit hat man den direkten Zugriff des Volkes auf die Gestaltung des Poli- tischen in extremer Weise gefiltert. Das Direk- te, das ist das Unberechenbare, das grundsätz- lich Fehlerhafte. Ihm misstraute und misstraut man. Und es wird wohl nicht wenige geben, 1 Vgl Schaller, Demokratiequalität in Österreich – Am Beispiel politische Partizipation, Forum Parla- ment 2/2003, 53ff.

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FORUM PARLAMENTJg. 3, Nr. 2/2005 welche die gescheiterten EU-Verfassungsrefe-

renden in Frankreich und den Niederlanden als Argumente nehmen, um die direktdemokra- tischen Meinungsäußerungen des Volkes in engere Schranken zu weisen.

(Selbst)Vertrauen und (Selbst)Verantwortung

Liberale Demokratien sind aber vom wechsel- seitigen Vertrauen zw Regierenden und Re- gierten abhängig. Und blickt man in die Schweiz mit ihren oft mühsamen Abstim- mungsriten, so gilt trotz aller gestiegener Komplexität von politischen Fragen: die Infor- miertheit der Bürger/innen, die zur Abstim- mung gehen, ist ungleich größer als bei uns.

Die Auseinandersetzung um Sachentscheidun- gen muss mit Informationskampagnen – von wem auch immer – geführt werden, was letzt- lich auch seinen Niederschlag findet.

Zu fragen ist, ob die Meinungsumfragen Recht haben, die eine massive Erosion des Ver- trauens der Bürger/innen in dieses Land und seine Institutionen feststellen. Das ist beson- ders dramatisch in einem Land, dessen Bür- ger/innen traditionell staatsgläubig sind – weit mehr, als es beispielsweise US-Amerika- nern/-innen in den Sinn käme. Die Österrei- cher/innen glaubten bis in die 1980-er Jahre, dass der Nationalrat die richtigen Gesetze ver- abschieden werde, dass österreichische Insti- tutionen funktionieren, und der Staat – nicht die Bürger/innen – das Gemeinwesen gegen innere Bedrohung zusammenhielte. Auf fast mythische Weise glaubten sie, dass der Staat es schon richten würde. Niemand käme auf die Idee, dass Bürger/innen selbst etwas unter- einander regeln, oder gar eigene, kreative Lö- sungen aus dem Hut zaubern könnten. Die Staatsgläubigkeit reicht ja heute noch so weit, dass viele in dem Glauben festhalten, der Staat könne Arbeitsplätze schaffen. Die Staatsgläu- bigkeit war lange Zeit die alles und alle prä- gende Religion des Landes.

Der daraus resultierende Umgang mit dem Bürger/der Bürgerin wird zB auch in der direk- ten Kommunikation von Regeln sichtbar: auf den Fenstern von österreichischen Eisenbahn- waggons wird auf Englisch gebeten, sich nicht hinauszulehnen, auf Italienisch weist man

darauf hin, dass dies gefährlich sei, und auf Deutsch wird es verboten. Das ist ein sympto- matisches Beispiel für einen grundlegenden Sachverhalt: Es geht um die Selbstverantwor- tung, die hier den österreichischen Bür- gern/-innen immer abgesprochen wurde.

Und hier beißt sich die Katze in den Schwanz: Zu dieser immer notwendiger wer- denden Selbstverantwortung bedarf es aber auch eines wachsenden Selbstvertrauens der Bürger/innen und auch ihres Vertrauen in die handelnden politischen Akteure/-innen. Der amerikanische Soziologe Francis Fukuyama geht sogar noch weiter, wenn er feststellt: „Die Wohlfahrt und Wettbewerbsfähigkeit einer Nation wird bestimmt von einem einzigen, durchdringenden kulturellen Merkmal: dem Maß an Vertrauen in der Gesellschaft.“2 Auch einige Ökonomen halten den „Vertrauenspe- gel“ für die Prosperität von Volkswirtschaften sogar für wichtiger als die natürlichen Ressour- cen. Ohne Vertrauen geben die Menschen kein Geld aus, lahmt die Wirtschaft. Schon Ludwig Erhard stellte fest: „Vertrauen ist die Hälfte der Wirtschaftspolitik.“3 Und der ameri- kanische Wirtschaftsnobelpreisträger Kenneth Arrow schrieb schon vor 30 Jahren: „Es kann plausibel erklärt werden, dass wirtschaftliche Rückständigkeit auf das Fehlen wechselseiti- gen Vertrauens zurückgeführt werden kann.“4

Dass Bürger/innen den Parteien und Politi- kern/-innen nicht mehr vertrauen (und umge- kehrt), rüttelt somit an den Grundfesten der Demokratie. Va die Einstellung der Jüngeren zu diesem Staat wird zunehmend distanzierter, teilweise sogar zynisch. Dies ist tatsächlich fa- tal, da gerade liberale Demokratien in einem hohen Ausmaß von wechselseitigem Vertrauen abhängig sind. Die Menschen müssen nämlich freiwillig kooperieren, ihre Arbeit gemeinsam verrichten.

Entwickelte Staaten müssen heute darauf achten, nicht zu unmodernen Ländern in einer modernen Welt zu werden. Ihre Betriebssyste- me sind auf den alten Industriestaat mit seinen 2 Fukuyama, Trust: The social virtues and the crea-

tion of prosperity (1995).

3 Erhard, Deutsche Wirtschaftspolitik. Der Weg zur Sozialen Marktwirtschaft (1962).

4 Arrow, Social Responsibilty and Economic Ef- ficiency (1973).

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ARLAMENT, Nr. 0/2002FORUM PARLAMENTJg. 3, Nr. 2/2005

Normen und Standards ausgerichtet. Über- lebt, wie das System ist, versucht es durch Ergänzungen, Verfeinerungen und Ausnahmen sich den Veränderungen anzupassen. Das Cha- os wird dadurch nur größer.

In dem Maß, in dem der Staat seinen Ein- flussbereich ausgedehnt hat, schränkte er den des Bürgers/der Bürgerin ein. Politik war daher lange Zeit Entzug von Bürgersouveränität. Po- litik läuft auch immer noch Gefahr, Neues da- durch zu verhindern, indem mangelnder Mut, Neues auszuprobieren, zum moralischen Ver- dienst verklärt wird. Wenn Zögern, Zaudern, Festhalten und Zerreden als „sozial“ und „ba- lanciert“ ausgegeben wird, sind mentale Ver- änderungen der Bürger/innen kaum möglich.

Wie dringend eine weitreichende Selbstver- antwortungsübertragung an die Bürger/innen wäre, zeigt die herrschende Risikoscheu und Unbeweglichkeit. Ihre konkreten Formen sind Ansprüche, Privilegien, Subventionen und Ga- rantien.

Es geht daher darum, Macht an die Bür- ger/innen abzugeben. Ansonsten wird wohl die Wahlabstinenz und der Rückzug in das Pri- vate weitergehen. Bereits Friedrich Hayek hat festgehalten: „Demokratie ist nur um den Preis zu haben, dass alleine solche Gebiete einer bewussten Lenkung unterworfen werden kön- nen, auf denen eine wirkliche Übereinstim- mung über die Ziele besteht, während man andere Bereiche sich selbst überlassen muss.“5

„Die konkrete Utopie: Freiheit“ – wie es Rein- hard K. Sprenger in seinem jüngst erschiene- nen Buch „Der dressierte Bürger“ nennt – „ist die Abwesenheit von Zwang und die Ermuti- gung zur Eigenständigkeit.“6 Er schließt sich dabei dem Nobelpreisträger Amartya Sen an, der Entwicklung als den „Prozess der Erweite- rung realer Freiheiten“7 definiert.

Bürger/innengesellschaft

Diese Freiheiten gilt es auch in Österreich neu zu definieren. Die Versuche über publizistische

Bürgergesellschaftsentwürfe diese Freiheiten als ohnehin vorhanden darzustellen, sind wohl nicht stringent genug durchargumentiert.

Es gibt drei Bürgergesellschaftsentwürfe im deutschsprachigen Raum, die in dieser Dis- kussion von Relevanz sind: Lothar Späths „Die Stunde der Politik“8, Alois Glücks „Verantwor- tung übernehmen“9 und Andreas Khols

„Durchbruch zur Bürgergesellschaft“10. Sowohl Khol wie auch Glück erwarten in- nerhalb enger „Rahmenbedingungen“, also gesetzlicher Normen, von den Bürgerinnen und Bürgern einen bestimmten Habitus, der mit den Bedingungen einer pluralen Gesell- schaft, die auf Selbstbestimmung des Indivi- duums aufbaut, konkurriert. Glück geht sogar so weit, gerade wegen der „fortschreitenden Globalisierung (...) weltweit durchsetzbare Spielregeln und starke Institutionen“ zu verlan- gen. Eine Absenz von Institutionen führe zu Chaos. Für Glück sind es die Institutionen des Soziallebens, denen eine wichtige Rolle in sei- ner Bürgergesellschaft zukommt. Dabei gilt aber eine „generell richtige Grundentschei- dung: Vorfahrt für die kleinere Einheit im Sinne des Subsidiaritätsprinzips“.

Dieses ist auch bei Lothar Späth von zen- traler Bedeutung: es ist das „zentrale Gestal- tungsprinzip im Verhältnis zwischen Bürger, Gesellschaft und Staat“. Was unsere Gesell- schaft aber dringend braucht, ist weit mehr, als hier und da an einer Reformschraube zu dre- hen. Solange der Staat nicht zu einem völlig neuen Selbstverständnis findet und die Bür- ger/innen in die Selbstverantwortung entlässt, werden wir im rasenden Stillstand verharren.

Was allen drei Entwürfen gemeinsam ist, ist die Betonung der Vereine als Ausdruck bürger- gesellschaftlichen Lebens. Der „Durchbruch zur Bürgergesellschaft“ von Andreas Khol be- inhaltet einen Gesellschaftsentwurf, der als

„dritter Weg“ zw allzuständigem und von der Gesellschaft getrenntem Staat konzipiert ist.

Privatisierungen im sozialstaatlichen Bereich sind Grundvoraussetzung für mehr Freiheit der 5 Hayek, Der Weg zur Knechtschaft (1948).

6 Sprenger, Der dressierte Bürger. Warum wir weni- ger Staat und mehr Selbstvertrauen brauchen (2005).

7 Sen, Ökonomie für den Menschen. Wege zu Ge- rechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft (2002) 13.

8 Späth, Die Stunde der Politik. Vom Versorgungs- staat zur Bürgergesellschaft (1999).

9 Glück, Verantwortung übernehmen. Mit der akti- ven Bürgergesellschaft wird Deutschland leis- tungsfähiger und menschlicher (2001).

10Khol, Durchbruch zur Bürgergesellschaft (1999).

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FORUM PARLAMENTJg. 3, Nr. 2/2005 Bürger/innen. Wahrgenommene Verantwor-

tung ist eine Möglichkeit zur Selbstverwirk- lichung, wie sie besonders gut in traditionellen Vereinen im kommunalen Umfeld erfahren werden kann. Bürgerschaftliches Handeln und das Aufbringen der Geldmittel über eine

„Spendendemokratie“ runden das Bild ab. Of- fen bleibt die urbane Ausprägung couragierter zivilgesellschaftlicher Beteiligung. Gerade die nicht institutionalisierte Form der projektgelei- teten Mitwirkung an der Gemeinschaft braucht die Einbindung in die Gesellschaft. In diesen Randbereichen entstehen neue Formen der Bürgerbeteiligung, die für die Weiterentwick- lung der Gemeinschaft von größter Bedeu- tung sind. Neues entsteht immer an den Rän- dern. Dabei geht es nicht um die längst zu klassischen Institutionen mutierten NGOs, son- dern etwa um Ansätze von Internetdemokratie und deren Beteiligungsmöglichkeiten. Die Ein- bindung der ständig angesprochenen Jung- wähler/innen wird nur mehr über deren Me- dien und deren Sprache möglich sein.

Wo aber ist die Andockstelle für diese Ju- gend im Parlament? Außer, dass es junge Ab- geordnete gibt, die sicherlich auch wissen, wie sie moderne Kommunikationsmedien nut- zen, müsste doch den interessierten Jugend- lichen ein direkter Zugang zu den Entschei- dungsträgern/-innen der Republik eröffnet werden. Das Selbstvertrauen wäre vorhanden, das Selbstbewusstsein auch. Die Förderung der Selbstverantwortung könnte gerade hier aufbauen.

Direkte Politik – Engagement der Jugend Das schnelle Geschäft an der Börse und die technischen Versprechen der Zukunft haben für die Generation der unter 30-jährigen an Glaubwürdigkeit und Attraktivität verloren. Ein kritischer Umgang mit der Warenwelt geht ein- her mit einem pragmatischen Idealismus. Das Schlagwort heißt daher „direkte Politik“. Jun- ge Menschen setzen dort Zeichen, wo sie kon- kret etwas erreichen können und gehen nicht den Umweg über politische Institutionen. „Es gibt eine Art ‚direkte Politik‘, die zum Beispiel in der Globalisierungspolitik versucht, unmit- telbar die Arbeitsbedingungen bei Nike oder Reebok oder GAP zu beeinflussen“, schreibt

Jedediah Purdy11, „oder die eine Kampagne konkret gegen die Investment-Politik der Citi- bank richtet, ohne sich an den Kongress oder eine ähnliche politische Institution zu wen- den“. Immer öfter streben Leute mit Potenzial und Ideen nicht in die Politik: „Sie kommen nicht an die Stellen, wo Entscheidungen ge- troffen werden“. Die Schlussfolgerung Purdys ist zwar etwas ungewöhnlich, aber trotzdem nachvollziehbar: „Ich würde mir ein klareres Bewusstsein davon wünschen, dass all das, was uns wertvoll ist, was wir gerne tun und wie wir gerne sind, von unbequemen und schwerfälli- gen und mangelhaften Institutionen und Ver- fahren abhängt, ohne die es eben nicht geht, und die deshalb unsere Aufmerksamkeit ver- dienen“.

Und der/die „normale“ Bürger/in, der in den 1970-er Jahren noch als „mündige/r“ Bür- ger/in bezeichnet wurde? Er ist – nach Dahren- dorf – passiv geworden. Und das ist vielleicht das Schlimmste, was passieren konnte. Aber der/die tätige Bürger/in ist verloren gegangen.

Karl Popper war in seinem Begriff der offenen Gesellschaft wahrscheinlich zu optimistisch. Er hat angenommen, dass sich Menschen unter allen Umständen Mühe geben, was tun und mitwirken. Heute gibt es aber eine Apathie der Bürger/innen, meint Dahrendorf12.

Bürgerbeteiligung im Parlament?

Die Frage stellt sich daher für das Parlament:

Warum werden die Bürger/innen nicht zu Dis- kussionsrunden mit den Ausschüssen eingela- den, die ihre Angelegenheiten beraten? Wir brauchen eine Öffnung der Ausschusssitzun- gen für Bürger/innen, die als Auskunftsperso- nen das Problem mitberaten können. Warum sollten nicht die Bereichssprecher/innen vor Abstimmungen nochmals mit betroffenen Bür- gern/-innen ihre Standpunkte durchdiskutie- ren, bevor sie zur Abstimmung gehen? Das Teilöffnen auch der Beratungen der parlamen- tarischen Klubs für interessierte Bürger/innen 11Purdy, Das Elend der Ironie (2002).

12Dahrendorf, Die Krisen der Demokratie. Ein Ge- spräch mit Antonio Polito (2002); oder: Dahren- dorf, Auf der Suche nach einer neuen Ordnung.

Eine Politik der Freiheit für das 21. Jahrhundert (2003).

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ARLAMENT, Nr. 0/2002FORUM PARLAMENTJg. 3, Nr. 2/2005

würde zum gegenseitigen Verständnis beitra- gen und Bürgern/-innen mit Selbstvertrauen die Möglichkeit bieten, ihre Eigenverantwor- tung wirklich auszuüben. Noch zielführender wäre allerdings, ein zivilgesellschaftlich cou- ragiertes Gremium einzurichten, das sich der Abschaffung von Gesetzen und der Letztkon- trolle der Notwendigkeit von neuen Gesetzen widmet. Wer könnte besser die Zukunfts- und Gesellschaftsverträglichkeit von Gesetzen be- urteilen? Freiheit beginnt beim Vertrauen in die eigenverantwortete Lösungskompetenz der Bürger/innen. Diese gemeinschaftlichen Aktivitäten müssten sinnvollerweise in der Ver- fassung als Pflichten festgeschrieben werden, wenn man sie ernst nehmen will.

Mit diesen Maßnahmen könnte verhindert werden, dass die Behandlung öffentlicher An-

gelegenheiten an Orten stattfindet, die durch sachliche, soziale und zeitliche Ausschluss- mechanismen charakterisiert sind. Die zum Schutz der Demokratie notwendigen öffent- lichen Konflikte werden dadurch nur bedingt und teilweise sichtbar. Durch die Öffnung käme mehr Interesse „herein“, Demokratie würde in unserer Gesellschaft wieder erkenn- barer. Wir sollten in Europa nicht immer nur über soziale In- und Exklusion reden, sondern wieder mehr über demokratische Inklusion – und wir sollten Dahrendorfs Warnung vor den Gefahren eines neuen Autoritarismus ernst nehmen. Sonst könnte auch die warnende Ver- mutung von Manfred Prisching zutreffen, dass das demokratische Modell in seiner liberal- rechtsstaatlichen Ausprägung womöglich sei- ne beste Zeit hinter sich hat.

Ernst Bruckmüller Wurzeln des modernen Parlamentarismus*

Deskriptoren: England; Frankreich; Heiliges Römi- sches Reich; Landtag; Mittelalter; Neuzeit; Reichs- tag.

Es ist eine der aufregendsten Geschichten un- ter den vielen Geschichten Europas, wie aus verschiedenen Versammlungstypen moderne Parlamente wurden.

Es gab zwei Grundtypen solcher Versamm- lungen: Reichstage und Landtage.

Reichstage sind überregional rekrutierte Versammlungen. Sie können sich aus Hoftagen der Könige oder Kaiser entwickeln. Sie können aber auch aus Delegierten von Landtagen zu- sammengesetzt werden. Sie setzen also die Existenz ständischen Wesens auf der Ebene von Subregionen der großen Reiche voraus.

Diese Landtage begegnen einem daher nicht überall, sondern nur dort, wo im Zuge der mittelalterlichen Gesellschaftsentwicklung

die alte Grafschaftsverfassung aufgelöst wurde und Länder entstanden. Das geschah im We- sentlichen nur in den Regionen des ehema- ligen Karolingerreiches – heute Frankreich, Deutschland, Belgien, Niederlande und Lu- xemburg, Schweiz und Österreich, ansatzweise auch Norditalien.

Von der curia regis zu den Reichstagen Reichstage entstanden aus den Hoftagen der mittelalterlichen Königreiche. Der Hof, die curia regis, war nicht nur die engste räumliche und soziale Umgebung des Herrschers, er war auch wichtiges Instrument der Herrschaft. Aus der curia regis entwickelten sich nach und nach ver- schiedene Formen der Akklamation, der Ge- richtsbarkeit, der Beratung und schließlich der Mitbeteiligung an der Herrschaft des Königs.

Heiliges Römisches Reich

Zu Hoftagen kam, wer dazu berechtigt war. Im Hl Römischen Reich waren dies die mit dem Kaiser oder König oft verwandtschaftlich ver-

* Die Langfassung dieses Beitrages ist auf der Website des Parlaments abrufbar:

www.parlament.gv.at.at – Service und Kontakt – Virtueller Lesesaal.

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FORUM PARLAMENTJg. 3, Nr. 2/2005 bundenen Großen des Reiches. Dazu kamen die

Leiter der Hofämter, besonders die Leiter der königlichen oder kaiserlichen Kapelle – also die Chefs des geistlichen Hofstaates, und die Leiter der Kanzlei, die Kanzler des Reiches. Daneben traten an den Hoftagen die im näheren und weiteren Umkreis sitzenden Lehensträger des Königs auf, die geistlichen und die weltlichen.

Jedenfalls standen jene Herren im Zentrum, die auch als Königswähler fungierten – jene, die man seit dem 13. Jhdt Kurfürsten nannte; das waren zunächst sieben, später neun.

Die Hoftagspflicht konnte beschränkt wer- den – so wurde den Herzögen von Österreich im Privilegium minus von 1156 die Erleichte- rung verbrieft, nur an Hoftagen in Bayern teil- nehmen zu müssen (gleichzeitig wurde auch die Heerfolge auf Reichskriege gegen Ungarn beschränkt).

Seit dem Spätmittelalter bemühte man sich um eine klare Umschreibung des Kreises der Berechtigten an den Tagen, die damit zu Reichstagen wurden. Dies führte zu einer ge- naueren Gliederung nach Ständen, Kurien oder Bänken. Natürlich waren die Kurfürsten dabei – sie können sozusagen als Oberhaus des Hl Römischen Reiches gelten. Anspruch auf Teilhabe an der politischen Beratung erho- ben alle jene Herrschaftsinhaber im Reich, die unmittelbar zum Kaiser standen (Reichsunmit- telbarkeit). Das waren – nach den Kurfürsten – die geistlichen und weltlichen Fürsten, aber auch die Reichsstädte.

Der Reichstag des Hl Römischen Reiches (deutscher Nation) blieb ein Beratungsorgan, bei dessen Beschickung die persönliche Rechtsqualität der Teilnehmer (abgesehen von den Städten) entscheidend blieb. Der Reichs- tag, wie er im 16. Jhdt entstand, bildete ge- meinsam mit dem Kaiser das entscheidende Organ des Reiches. Nur gemeinsam konnten

„Kaiser und Reich“ gültiges Reichsrecht schaf- fen. Nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618–

1648) wurde ein permanenter Reichstag einge- richtet, der eine Versammlung von Delegierten der berechtigten Reichsstände war.

Frankreich

Auch hier gab es zunächst Hoftage. Die gro- ßen und eigenständigen Fürsten wurden je-

doch bis zum 13. Jhdt weitgehend ausgeschal- tet und ihre Territorien dem königlichen Terri- torium einverleibt. Da mit wenigen Ausnah- men die großen Fürstentümer damit in der Hand des Königs lagen, gab es sehr früh schon keine am Rat des Königs persönlich Anteilsbe- rechtigten – mit Ausnahme der „Prinzen von Geblüt“, also jener Mitglieder des Königshau- ses, die nicht als Könige herrschten, und der höchstrangigen Adeligen. Sie können so ähn- lich wie ein Oberhaus interpretiert werden.

Da das französische Königtum seit dem 13.

Jhdt über die meisten Fürstentümer des Kö- nigreiches direkt herrschte, und dort Stände existierten, konnte der König aber überall Pro- vinziallandtage einberufen. Die erstmals 1302 zusammengetretenen Generalstände sind zu- nächst als Delegiertenversammlungen der Pro- vinzen zu verstehen. Der Kreis der Teilnahme- berechtigten erscheint in drei große Gruppen, Stände, geteilt – der Adel entwickelt sich aus der königlichen Ritterschaft, die Geistlichkeit aus den dem König unterstehenden Geist- lichen, und die bonnes villes waren die könig- lichen Städte.

Durch die große Zahl der Berechtigten musste man Delegierte wählen. Innerhalb der königlichen Amtsbezirke (Bailliages oder Sé- néchaussées) wurden also für die jeweilige Ver- sammlung für jeden der drei Stände Abge- sandte gewählt. Stimmberechtigt war beim Klerus jeder Weltgeistliche bis hinab zum Inha- ber einer Pfarre, dazu kamen die Vorsteher der (Dom-) Kapitel und Klöster. Beim Adel war je- der Inhaber eines Lehens wahlberechtigt, beim dritten Stand jeder Hausvorstand, also auch Witwen. Diese Abgesandten erhielten von den Wählerversammlungen ein imperatives Man- dat mit auf den Weg: in den cahiers des doléance (Beschwerdeheften) wurden die re- gionalen Beschwerden gesammelt, außerdem wurde genau festgehalten, was sie bewilligen sollten.

Gewählt wurden häufig königliche Amtleu- te, weil sie nicht so eng mit spezifischen Inter- essen verbunden waren wie andere mögliche Deputierte. Für die Könige boten daher Ver- sammlungen der Generalstände idR eine nicht besonders oppositionelle Plattform.

Am Tagungsort selbst bildeten die Depu- tierten einer jeden Provinz nach Ständen ge-

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trennte Arbeitsgruppen. Jeder der drei Stände hatte aus den vielen cahiers einen einzigen zu verfassen. Die Treffen selbst waren eine stete Quelle heftiger Auseinandersetzungen um den Vorrang innerhalb eines Standes oder einer Region. Auf den Generalständen wurden die Beschwerden nach Ständen, aber auch nach Provinzen abgestimmt.

Gemeinsam nannten sich die drei Kurien Stände (états). Zum Unterschied von den ver- einzelt noch existierenden Ständen einzelner Provinzen (états de pays) traten sie reichsweit als Generalstände (états généraux) zusammen.

Seit dem 15. Jhdt setzte sich eine Neuinterpre- tation dieser Versammlung durch: Sie galten zwar noch immer als Versammlung der Kronva- sallen, aber jetzt sah man in ihnen die nacion, die Nation, was damals ebensoviel bedeutete wie die Gruppe der politisch Berechtigten des Königreiches. Die neue Begrifflichkeit konnte aber mit einer neuen Emotionalität und letzt- lich mit einem neuen Inhalt gefüllt werden – wenn die Nation die politisch Berechtigten wa- ren – warum sollten nicht alle erwachsenen Männer zur Nation gehören, da die ursprüng- liche Gleichsetzung von militärischer oder geistlicher Sondertätigkeit für den König auf Grund der für alle gleichen Steuerforderungen längst obsolet geworden war?

Immer wurden solche Räte, Reichstage, Landtage, Generalstände, einberufen, wenn der König dringend etwas brauchte. Und die Stände bewilligten auch. Ursprünglich ent- sprach das bewilligte Gut dem jeweiligen Stand: Der Adel erklärte sich bereit in den Krieg zu ziehen, der Klerus unterstützte das Vorhaben durch sein Gebet, und die könig- lichen Städte, die bonnes villes, bewilligten Geldgaben, also Steuern. Mit der Zeit forder- ten die Könige aber von allen Ständen in erster Linie Geld, das man primär zur Entlohnung von Söldnern benötigte.

Im Gegenzug nannten die Stände ihre For- derungen an den König, ihre Beschwerden. Sie sollten beseitigt und allenfalls zum Gegen- stand der königlichen Gesetzgebung werden.

Die Stände selbst waren nicht Gesetzgeber.

Das war nur der König. Allerdings war es auch in Frankreich üblich, dass grundlegende Verän- derungen des Rechts beraten wurden, bevor man sie als Gesetz verkündete. Dies erfolgte

im conseil, im großen Rat, der ebenfalls aus der mittelalterlichen curia regis hervorgegan- gen war. Im conseil saßen die Prinzen von Ge- blüt und die höchstrangigen Adeligen, der Kanzler, die Leiter der Zentralbehörden und seit dem 16. Jhdt auch die Präsidenten der Obergerichte (parléments). Je nach Materie zog man zu den Beratungen auch weitere Krei- se hinzu – etwa bei Finanzgesetzen Vertreter der Städte. Diese Versammlungen konnten zu Notablenversammlungen des ganzen König- reiches ausgeweitet werden, die sich von den Generalständen kaum unterschieden – dem König stand es ja prinzipiell frei, wen er in seinen Rat berief.

Freilich wollten um 1500 auch die Stände schon bei der Gesetzgebung mitwirken – zu- mindest in der Zeit der Minderjährigkeit eines Königs beanspruchten die Generalstände die Rolle des Souveräns. Zur besseren Kontrolle der Gesetzgebung forderten die Stände wie- derholt, dass Delegierte aus ihren Reihen in den königlichen Rat aufgenommen würden.

Aber egal, ob das auch durchgeführt wurde:

Die Antwort des Königs auf die Beschwerden der Stände galt als rechtsverbindlich. Indirekt haben also die Stände die Gesetzgebung doch deutlich beeinflusst. Diese Auffassung weitete sich im 16. Jhdt insofern aus, als König Hein- rich III. in Blois 1576 versicherte, er werde die Achtung aller Gesetze, die er in dieser Ver- sammlung erlassen werde, sicherstellen. Damit wurde ein Gesetzesvorschlagsrecht der Stände anerkannt. Gesetze, die auf ständische Forde- rungen hin erlassen wurden, galten offenbar als besonders hervorragende Rechtsquellen.

Schon im 14. Jhdt hatte sich die Auffassung eingebürgert, dass königliche Gesetze durch die Obergerichte (parléments) registriert wer- den müssten, bevor sie publiziert werden konnten. Die Gerichte nahmen dabei das Recht in Anspruch, diese Gesetze zu prüfen, zunächst auf Formfehler und Widersprüche.

Erst Ludwig XIV. ging bewusst einen ande- ren Weg: Er verkündete seine großen ordon- nances nicht mehr nach Beratungen in den Ständen oder im conseil, sondern ausschließ- lich aus königlicher Machtvollkommenheit. Die Gerichte blieben allerdings bei ihrem Recht der Registrierung – und damit auch der Prü- fung. Am Ende des ancien régime, im 18. Jhdt,

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FORUM PARLAMENTJg. 3, Nr. 2/2005 blockierten die von aufgeklärten Juristen

beherrschten Gerichte auf diese Weise die kö- nigliche Gesetzgebungstätigkeit und trugen dadurch maßgeblich zum Ausbruch der Revo- lution bei.

England

Wie überall entwickelte sich auch die englische Reichsversammlung aus der Hoftagen des Mit- telalters, der curia regis. Dementsprechend dominierte langehin das Oberhaus – die Ver- sammlung der großen Gefolgsleute des Kö- nigs und der Bischöfe, der Magnaten. Es war eben eine Versammlung der großen Lehens- träger des Königs. Zwar gab es schon im 13.

Jhdt Versammlungen mit Abgeordneten der niederen Ritter und der Städte – Vorläufer des späteren Unterhauses. Doch spielten sie zu- nächst nur die Rolle von Bittstellern, petitio- ners. Sie waren nach Grafschaften organisiert.

Diese blieben im Prinzip königliche Gerichts- und Verwaltungseinheiten. Die Ritter oder frei- en Bauern in den Grafschaften und die Städte konnten niemals anders als durch Delegierte repräsentiert werden.

Man pflegt zwar die Goldene Bulle von 1222 als Ausgangspunkte für die ständischen Entwicklungen der folgenden Jhdte heranzu- ziehen, doch ging es darin vielmehr um Privile- gien, die den hohen Adel vor Übergriffen durch königliche Amtsträger schützen. Bis sich aus dem Rat der Magnaten ständische Parla- mente, die Trennung in Ober- und Unterhaus und ein verbrieftes Mitwirkungsrecht an der Gesetzgebung des Königs entwickelten, ver- ging eine lange Zeit. Das Zeremoniell der eng- lischen Parlamentseröffnung, aber auch die Funktion des Parlaments als Gericht zeigt noch lange die Dominanz des Oberhauses. Erst durch die Revolution des 17. Jhdts wurde die- ses Verhältnis grundlegend in Richtung Gleich- berechtigung bzw schließlich Übergewicht des Unterhauses geändert.

Landtage

Nach analogem Muster liefen auch die Land- tage ab. Landtage entstehen in den im Hoch- mittelalter neu entstandenen Ländern (pays) im Bereich des ehemaligen karolingischen Rei-

ches. Auch auf dieser Ebene entwickelte sich ein Kreis von Berechtigten, die schon von den Reichsgesetzen des 13. Jhdts als meliores oder maiores terrae angesprochen wurden. Zu- nächst bestanden sie aus dem militärischen Gefolge des Landesfürsten, seinen ministeria- les, später auch seinen milites (Ritter) und den landesfürstlichen Städten. Im Spätmittelalter wurden oft auch qualifizierte Geistliche zur Be- ratung eingeladen. Die frühneuhochdeutsche Bezeichnung gesprech für solche Treffen ent- spricht dem lateinischen Begriff parlamentum (von spätlateinisch-italienisch parlare).

Ebenso wie die Könige brauchten auch die Landesfürsten die Unterstützung ihrer Land- stände. Landtage sind Zahltage – das war allen Beteiligten bewusst. Die Stände waren auch keineswegs frei in der Entscheidung, ob sie überhaupt Steuern bewilligten oder nicht, ver- handeln konnte man allerdings über die Höhe der Steuer.

Krisenzeiten waren für die Entwicklung der Reichs- und Landtage und ihrer Institutionali- sierung als Reichs- und Landstände günstig, lange Friedenszeiten unter wohlhabenden Herrschern, die keine Steuerbewilligungen brauchten, schlecht.

Bleiben wir beim Beispiel der österreichi- schen Länder. Jene Gruppen, die sich später als Stände organisierten, etablieren sich schon im 13. Jhdt als zentrale Partner oder Gegen- spieler des Landesfürsten. Um die Wende vom 14. zum 15. Jhdt entstehen die ersten „richti- gen“ Landtage, zu denen Herren, Ritter, Städ- te und Prälaten gemeinsam eingeladen wur- den. Diese vier Stände existierten in Ober- und Niederösterreich, zunächst auch in der Steier- mark, und ähnlich in Kärnten. In Salzburg und Tirol existierte hingegen nur ein Ritterstand, die Herren fehlten. Das hängt mit der Entste- hung der Länder und der besonderen Adels- struktur zusammen. Wo eine starke Ministeria- lität des Landesfürsten die Landesentstehung trug, wurde diese Trägerschicht des neuen Landes zur zentralen Adelskategorie. Aus den nach Rechten und Besitzungen minder bedeu- tenden landesfürstlichen milites – Rittern – ent- stand der Ritterstand. Die landesfürstlichen Städte (also nicht jene unter adeliger oder geistlicher Herrschaft) wurden ebenso zu den Landtagen einberufen wie die Prälaten, die

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Vorsteher jener geistlichen Kommunitäten, die über Grundbesitz und Untertanen verfügten und unter landesfürstlicher Vogtei standen. Als die Stände regelmäßiger einberufen wurden und die Steuerbewilligungen ebenso eine ge- wisse Regelmäßigkeit erlangten, begannen jene, eigene Häuser zu erwerben oder zu bau- en, in denen sie sich versammeln konnten. Die- se neuen Landhäuser dienten der Aufbewah- rung der Unterlagen für die Landtage, für die Berechtigung an der Teilnahme (woraus später die Landtafeln als ständische Grundbücher entstanden) und für die Aufteilung der Be- steuerung auf die einzelnen Grundherren (sog Gültbücher, seit etwa 1540). Die Landhäuser in Wien, Graz, Linz, Klagenfurt und Innsbruck sind bis heute sehenswerte, oft auch künstle- risch bedeutende Hinterlassenschaften dieser Landschaften (wie man die Stände oft sum- marisch nannte) und dienen – mit Ausnahme Niederösterreichs – auch heute noch den je- weiligen Landesverwaltungen.

Die Stände und die Habsburger – Macht und Ohnmacht

Die Kriege des 15. Jhdt gegen Hussiten und Ungarn förderten die Macht der Stände eben- so wie Zwistigkeiten im Herrscherhaus. Kriege verschlangen Geld, und davon hatte der Lan- desfürst zu wenig. Also musste er die Land- stände zusammenrufen, um ihnen die Bewilli- gung zur Einhebung von Beihilfen, sog Steu- ern, abzuverlangen. Genauso wie eine Etage höher die Reichsstände oder Parlamente der europäischen Königreiche verhielten sich die Stände der einzelnen Länder: Sie sprachen zwar von der Bereitwilligkeit, Gut, Blut und Geld zum Schutz des Vaterlandes aufzubrin- gen, allerdings müsste auch der Fürst diese oder jene Änderungen vornehmen, Reformen durchführen, böse Räte entlassen und sich überhaupt mehr auf den Rat seiner getreuen Stände stützen, die ja viel besser wüssten, was dem Lande nütze. Konflikte im Herrscherhaus waren stets günstig für die Macht der Stände.

Nach der Niederlage der Böhmen und der mit ihnen verbündeten Ober- und Niederösterrei- cher 1620 am Weißen Berg bei Prag reduzierte der siegreiche neue Herrscher Ferdinand II.

aber die ständischen Rechte.

Reformation und Ständewesen

Wo sich oppositionelle oder gar rebellierende anderskonfessionelle Stände (etwa protestan- tische gegen einen katholischen Fürsten) durchsetzen konnten, erhielten sie eine erheb- liche Machtposition (vgl England, Niederlan- de, tw ungar Reichstag) . Wo hingegen die Reformation durch fürstliche Entschließung eingeführt wurde (Preußen, Dänemark), pro- fitierten die Stände davon gar nicht. Wo katho- lische Herrscher über stark protestantisch ori- entierte Stände den Sieg davontrugen (Frank- reich, Böhmen, österreichische Länder) führte dies nicht nur zum Untergang des evange- lischen Christentums, sondern auch zu einer erheblichen Schwächung der Stände.

Ständische Versammlungen zeigen also in den Jhdten der Neuzeit ganz verschiedene Gesichter: Einige wandelten sich im 18./19.

Jhdt durch Änderungen in der Rekrutierung (Wahlreformen) langsam zu modernen Parla- menten um, wie das in England und Schwe- den zu beobachten ist. Die französischen Ge- neralstände mutierten, 1789 wegen des finan- ziellen Chaos in Frankreich einberufen, unter dem Eindruck der modernen Gesellschafts- theorien der Aufklärung und der Amerikani- schen Revolution durch die Erklärung des Dritten Standes zur Nationalversammlung zu einer revolutionären, eine neue Legitimität begründenden Versammlung. Die Reichstage des Hl Römischen Reiches, im 16. Jhdt in ihrer Zusammensetzung abgeschlossen, wurden 1663 zu einer ständigen Delegiertenversamm- lung mit geringer Problemlösungskompetenz.

Der polnische Reichstag beschloss im Kampf gegen das übermächtige Russland seine grundlegende Reform in Richtung auf ein mo- dernes Parlament (1792), doch ließen Russ- land und Preußen die Umsetzung nicht (mehr) zu. Der ungarische Reichstag existierte bis 1848 weiter und konnte in seiner letzten Pha- se eine spannende Reform entfalten – unter habsburgischen Königen, die gleichzeitig in ihren übrigen Ländern die ständischen Ver- sammlungen auf ein Minimum an Wirksamkeit degradiert hatten.

Auf dem europäischen Kontinent ging die Tendenz zur Überwindung des spätmittelalter- lich – frühneuzeitlichen Ständestaates idR von

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FORUM PARLAMENTJg. 3, Nr. 2/2005 den Fürsten aus: Vom französischen König, von

den Habsburgern, von den diversen Fürsten des Hl Römischen Reiches, von denen die Markgrafen von Brandenburg (und seit 1701 Könige in Preußen) wohl die erfolgreichsten waren. Überall wurde dabei die Rolle ständi- scher Einrichtungen und Versammlungen zu- rückgedrängt.

Dennoch wäre es verfehlt, in den Ständen nur Reliktformen des späten Mittelalters zu se- hen. Sie waren auch in absolutistischen Syste- men Foren einer politischen Öffentlichkeit, die die Herrschaftsgewalt und den Glanz des Fürs- ten nicht prinzipiell in Frage stellte, ihn aber doch in eine altertümliche Legitimität einban- den. Dafür stehen die Krönungen und Erbhul- digungen, die oft bis ins 19. Jhdt hinein einen glanzvollen Rahmen für das gemeinsame öf- fentliche Auftreten von Fürst und Ständen bo- ten und durch den Eid der Stände, aber auch durch die Bekräftigung der ständischen Frei- heiten durch den Fürsten die alte Auffassung von einer gewissen Gegenseitigkeit am Leben erhielten.

Das war nicht bedeutungslos. So hat noch Karl VI. die Pragmatische Sanktion, zunächst ein Hausgesetz, also eine Erbfolgeregelung, die primär die Mitglieder der Familie binden sollte, von allen Ständen der habsburgischen Länder bestätigen lassen, wobei die Bestäti- gung durch den ungarischen Reichstag wohl am wichtigsten war (1722). Dadurch galt diese Regelung auch unbestritten bis 1918 und wur- de beim Zerfall der Monarchie von den meis- ten der neuen politischen Einheiten auch ganz formell aufgekündigt.

Revolution 1848 und die Anfänge des modernen Parlamentarismus in Österreich Die Märzrevolution von 1848 fegte den kaiser- lichen Absolutismus fürs erste hinweg. Kurz überlegte man, aus den Ständen aller Länder eine Art ständischen Zentralausschuss nach Wien einzuberufen, zwecks Vorbereitung einer neuen Verfassung. Schließlich arbeitete Innen- minister Baron Pillersdorf die Verfassung selbst aus, die ein Zentralparlament für die nicht- ungarischen Länder der Monarchie vorsah, be-

stehend aus zwei Kammern. Dagegen lehnte sich das revolutionäre Wien in der Mairevolu- tion (15. Mai: Sturmpetition der bewaffneten Studenten) auf – das Parlament sollte nur aus einer Kammer (Abgeordnetenhaus) bestehen, bei breitem Wahlrecht. Und dieser Reichstag sollte ein verfassungsgebender (konstituieren- der) sein. Man setzte das schließlich durch, ein fast allgemeines Männerwahlrecht, ermöglich- te eine breite Beteiligung an der Wahl zu die- sem Parlament. Als es im Juli zusammentrat, wurde damit das erste „wirkliche“ Parlament der österreichischen Geschichte eröffnet.

Gleichzeitig lebte aber das Erbe der ständi- schen Epoche noch weiter: In den meisten Län- dern wurden 1848 Abgeordnete des Bürger- und Bauernstandes zu den alten ständischen Landtagen hinzugewählt. In einigen Ländern (etwa Oberösterreich, Steiermark, Mähren) entwickelten diese durch gewählte Abgeord- nete ergänzten altständischen Landtage eine lebhafte Diskussionstätigkeit, va über die Fra- ge, wie die bäuerliche Abhängigkeit zu been- den sei. Erst mit der Schließung dieser Land- tage im Sommer 1848 ging die Geschichte des traditionellen, ständischen Landtagswesens wirklich zu Ende.

Im Jahre 1861 wurden – nach dem Februar- patent – nunmehr gewählte Landtage einberu- fen, die ihrerseits zunächst die Mitglieder des Reichsrates nach Wien delegierten. Aber da- mit befinden wir uns bereits in einer anderen Geschichte, jener des modernen Parlamenta- rismus.

Literaturauswahl

Bruckmüller (Hrsg), Parlamentarismus in Österreich (2001).

Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der terri- torialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter. Nachdruck (1981).

Études présentées à la Commission internationale pour l’histoire des assemblées d’états – Studies presented to the International Commission for the History of Representative and Parliamentary Institutions (inzwischen mehr als 80 Bände) Kluxen, Geschichte und Problematik des Parlamen-

tarismus (1983).

Wirsching, Parlament und Volkes Stimme. Unterhaus und Öffentlichkeit im England des frühen 19.

Jahrhunderts (1990).

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Oliver Rathkolb Das Parlament als Ort des Gedenkens und der

Vergangenheitspolitik

Deskriptoren: BGBl 1995/432; BGBl I 1998/181;

BGBl I 2000/74; BGBl I 2001/11; BGBl I 2001/12;

E 90 (XX. GP); E-176-BR; Entschädigungsfonds; Na- tionalfonds; Restitution; Vergangenheitsbewälti- gung; Versöhnungsfonds.

Umgang mit der Geschichte

Die Stenographischen Protokolle des Natio- nalrates sind eine hervorragende Quelle, um die gesellschaftlichen Entwicklungen und Än- derungen der kollektiven Einstellungen ge- genüber historischen Vorstellungen und Inter- pretationen von jüngerer und jüngster Vergan- genheit sichtbar zu machen. Im Zentrum steht die Auseinandersetzung über den Zivilisations- bruch Auschwitz, über die systematische Aus- grenzung, Verfolgung und letztlich Ausrottung der europäischen Juden/-innen durch das NS- Regime. Viele Jahrzehnte war die Debatte über den Anteil von Österreichern/-innen an der NS-Verfolgungs- und Vernichtungsmaschi- nerie, die Simon Wiesenthal bereits in den 1960-er Jahren in einer Dokumentation1 an Bundeskanzler Josef Klaus thematisiert und dokumentiert hatte, überlagert von der per- sönlichen Erfahrung der KZ-Generation unter den politischen Entscheidungsträgern um Bun- deskanzler Leopold Figl, die im Opfermythos über fast alle Österreicher/innen gebreitet worden war.

Wer heute die tausenden Seiten in den Ste- nographischen Protokollen über die Entnazi- fizierungsgesetzgebung, über die sieben Rückstellungsgesetze 1946–1949, die vier Rückstellungsanspruchgesetze (1947–1949) oder das Opferfürsorgegesetz 1947, das Be- amtenentschädigungsgesetz 1952 bis zum Hilfsfondsgesetz 1956 und dem Abgeltungs- fondsgesetz aus 1961 nachliest, wird einen Eindruck über die Folgen dieser überzogenen Opferdoktrin gewinnen. Auch die Debatten über die diversen Amnestierungsgesetze be-

züglich der Entnazifizierungsfolgen bis hin zur großen umfassenden Amnestie 1957 sind aus heutiger Sicht höchst irritierende Dokumente einer kollektiven Unschuldsvermutung und des Verantwortungstransfers auf das ehemalige Deutsche Reich und die spätere Bundesrepu- blik Deutschland (BRD).

Hier sei nur eines der vielen Beispiele für die höchst zurückhaltende österreichische Po- sition kurz ausgeführt. Im Staatsvertrag 1955, Art 26, hat die Republik Österreich zuge- stimmt, noch offene Vermögensfragen zu lö- sen: Obwohl am 17. März 1959 auf Ebene des österreichischen Ministerrates von ÖVP und SPÖ eine Entschädigungssumme von sechs Mill US-Dollar plus zehn Prozent Verwaltungs- kosten genehmigt worden war, sollte sich die weitere Umsetzung noch weitere zwei Jahre in die Länge ziehen, denn diese Frage wurde mit den Ansprüchen Österreichs gegenüber der BRD junktimiert

Diese Frage war auch im Nationalrat heftig umstritten, wie Außenminister Bruno Kreisky am 15. Juli 1960 zugab: „Art 26 verweist ganz offen über unsere Schwierigkeiten in dieser Beziehung. Er vertrat die persönliche Überzeu- gung, dass die österreichische Regierung nicht genug getan hat für politische Opfer, die in Österreich selbst leben. Eine kleine Minderheit von Helden. Aber Helden sind zu Lebzeiten nie populär. (Finanzminister) Kamitz hatte mehr Verständnis für ausländische Flüchtlinge als für die Opfer im Inland. Die Parlamentarier warten nun auf (die) Gelegenheit, um (den) Finanz- minister unter Druck zu setzen – zugunsten der inländischen Opfer“.2

1961 fand man letztlich eine Lösung. Sie war ein Ergebnis der zeitgleich stattfindenden deutsch-österreichischen Vermögensverhand- lungen – erst als hier die Eckdaten klar waren, die dann im Bad Kreuznacher Abkommen mit der BRD vom 27. November 1961 endeten,

1 Vgl dazu Pick, Simon Wiesenthal. Eine Biographie (1997). Übersetzt von Susanne Klockmann.

2 Österreichisches Institut für Zeitgeschichte, Tage- bücher Martin Fuchs, Eintragung 15. Juli 1960.

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FORUM PARLAMENTJg. 3, Nr. 2/2005 wurde der Abgeltungsfonds zur Entschädi-

gung von Vermögensverlusten wie Bankkon- ten, Wertpapiere, Hypotheken, am 22. März 1961 vom Nationalrat per Gesetz begründet und zumindest formal die Junktimierung ge- löst. Gleichzeitig wurde auch die 12. Novelle zum Opferfürsorgegesetz beschlossen. Letzt- lich erhielten auch die „Heimatvertriebenen“, dh die deutschen Flüchtlinge nach 1945, die in Österreich lebten, 125 Mill DM, für die NS- Verfolgten waren 95 Mill DM vorgesehen. Wei- tere sechs Mill DM zahlte die BRD an die Sam- melstellen, sodass mit der Verdopplung durch die Republik Österreich dann letztlich der Ge- samtbetrag von 1,3 Mrd Schilling aufgebracht wurde.

Der Zeitraum zw dem Abschluss des Staatsvertrages 1955 und der Entfertigungs- erklärung bezüglich der Erfüllung des Art 26 Staatsvertrag durch Nahum Goldmanns na- mens des Jewish Claims Committee am 19.

Dezember 1961 signalisiert diese konfliktbe- ladene Nachverhandlungsphase. Dies ist zum einen auch auf die zu ungenaue Formulierung des Art 26 zurückzuführen und zum anderen dem Faktum geschuldet, dass zum Unter- schied von den sowjetischen Ansprüchen auf das Deutsche Eigentum keine präzisen Verein- barungen – vergleichbar mit dem Moskauer Memorandum 1955 – getroffen wurden. Selbst die USA begnügten sich trotz der bereits seit Juni 1953 deutlich zurückhaltend bis verzö- gernd von der österreichischen Bundesregie- rung geführten Verhandlungen mit dem Com- mittee for Jewish Claims on Austria mit dem status quo des Art 26.

Die zitierte Entfertigungserklärung des Je- wish Claims Committee sollte jedoch nicht Ein- zelansprüche abdecken und auch nicht jene Institutionen binden, die nicht dem Committee angehörten. Einer der Chefverhandler auf Sei- ten des Committee, Gustav Jellinek, 1885 in Mistelbach geboren, zog den Schluss, der durchaus die politisch unterschiedliche Strate- gie der BRD und Österreichs zum Ausdruck bringt und damit der letztlich doch gezahlten Entschädigung in Österreich viel an politischer Akzeptanz nimmt: „(...) die deutsche Regie- rung war, (...) vom Beginn an bereit, mit der Claims Conference zu arbeiten und rasch zu einem gedeihlichen Ende zu kommen; so gut

wie das ganze deutsche Parlament stand hin- ter ihr3. Die österreichische Regierung war vom Beginn an entschlossen, nichts zu geben, nicht mit uns zu arbeiten und alle unsere Be- mühungen zu sabotieren. Und das ganze Par- lament stand hinter ihr“.4

Verantwortung für Vergangenheit in Gesetzen

Erst 1991 hat der damalige Bundeskanzler Franz Vranitzky von der Regierungsbank aus für eine österreichische Bundesregierung

„eine moralische Mitverantwortung für Taten unserer Bürger“ anerkannt.5 Diese neue Staatsdoktrin, die die umfassende Opferdok- trin auch im Gefolge der heftigen nationalen und internationalen Diskussion über die Kriegsvergangenheit des Bundespräsident- schaftskandidaten und späteren Bundespräsi- denten Kurt Waldheim seit 1986 langsam ab- zulösen begann, wurde in einer weiteren Grundsatzrede Vranitzkys an der Hebrew Uni- versity in Jerusalem vertieft, indem er eine An- erkennung der „kollektiven Verantwortung“6 aussprach, aber gleichzeitig auch eine Kollek- tivschuld ablehnte.

In der parlamentarischen Debatte über den Nationalfonds, gegr als aktives Erinnerungsin- strument zum 50. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges im Gefolge eines parla- mentarischen Initiativantrages7 der SPÖ-ÖVP- Koalitionsregierung Bundeskanzler Franz Vra- nitzkys und Vizekanzler Erhard Buseks, wurde deutlich, dass inzwischen trotz mancher lauter Zwischenrufe die Revision der Opferdoktrin eine klare Mehrheit fand. In diesem von Peter Kostelka und Andreas Khol als Klubobleute ausgearbeiteten Antrag wurde die Verpflich- 3 Anm d Verf: Zahlreiche Mitglieder der CDU/CSU- Fraktion im Bundestag enthielten sich oder ver- weigerten die Zustimmung zu dem Luxemburger Abkommen über Entschädigungsleistungen auch an den Staat Israel.

4 Jellinek, Die Geschichte der österreichischen Wiedergutmachung, in: Frankel (Hrsg), The Jews of Austria. Essays on their life, history and de- struction (1967) 426.

5 XVIII. GP, 35. NR-Sitzung v 8.7.1991, 3283.

6 Kabinettsunterlagen Franz Vranitzky, Reden, 9.6.

1993 (Stiftung Bruno Kreisky Archiv).

7 XIX. GP, IA 251/A.

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tung untermauert, „sich an das unermessliche Leid zu erinnern, das der Nationalsozialismus über Millionen Menschen gebracht hat, und der Tatsache zu gedenken, dass auch Österrei- cher an diesen Verbrechen beteiligt waren“.

Der Nationalfonds8, der auch im Parlament di- rekt institutionalisiert wurde, hat seit 1995 an 29.461 Opfer des nationalsozialistischen Ter- rors symbolische Pauschalzahlungen geleis- tet.9

1997 haben sowohl Nationalrat als auch Bundesrat Entschließungen angenommen, die den Tag der Befreiung des Konzentrations- lagers Mauthausen (4. Mai) zum „Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus“ erklären – ein Tag der seither jährlich mit einer großen Gedenkveranstaltung begangen wird.10

Bemerkenswert ist, dass hier die öster- reichische Vergangenheitspolitik erstmals die internationale Diskussion vorweggenommen hat, wohl auch aufgrund des Nachholbedarfs.

Erst als die politische und mediale Auseinan- dersetzung um die bei Schweizer Banken schlafenden bzw gesperrten Konten von Ho- locaust-Opfern ab 1996 signalisierte, dass in dieser Frage das Schweigen der Nachkriegs- gesellschaft gebrochen werden würde, schal- teten sich auch Anwälte ein – unter ihnen Ed Fagan. Bereits am 2. Oktober 1996 reichte Fa- gan für Frau Gizella Weisshaus, eine Holo- caust-Überlebende aus Rumänien, eine Sam- melklage bei einem Gericht in Brooklyn ein:

Streitwert 20 Mrd US-Dollar. Die US-Bundes- zivilprozessordnung ermöglicht mit diesem Rechtsinstrument eine Klage durch Repräsen- tanten einer Gruppe, die denselben Nachteil erlitten haben müssen, dh durch gemeinsame Rechts- und Tatsachenfragen verbunden sind.

Class Actions sind in den USA nicht unumstrit- ten, va wegen der extrem hohen Honorare der Anwälte und der relativ geringen Einzelent- schädigungen für die Klasse der Geschädig- ten.

Letztlich hätte aber auch die mediale und politische Beschäftigung mit den schlafenden Schweizer Konten keine Reaktion gehabt,

wenn nicht – aufgrund der zunehmenden inter- nationalen Vernetzung der Finanzmärkte – Schweizer Unternehmen und Konzerne in New York und generell in den USA zunehmend mit rechtlichen und va ökonomischen Problemen konfrontiert worden wären, wobei die mög- lichen Konsequenzen eines breiten Boykotts durch US-Aktieninhaber (va US-Aktienfonds) nicht absehbar waren.

Die österreichische Politik griff die Schwei- zer Debatte auf und schottete sich nicht ab.

Die unabhängige „Kommission zur Prüfung des Vermögensentzugs auf dem Gebiet der Republik Österreich während der NS-Zeit so- wie Rückstellungen bzw Entschädigungen (so- wie wirtschaftliche oder soziale Leistungen) der Republik Österreich ab 1945“ (Historiker- Kommission11) wurde im Unterschied zu der Schweizer Lösung nicht vom Parlament, son- dern aufgrund einer Vereinbarung durch den österreichischen Bundeskanzler, Vizekanzler sowie den Präsidenten des Nationalrates so- wie des Bundesrates am 1. Oktober 1998 ein- gerichtet. Ein Gesamtbudget von 90 Mill Schil- ling sollte auch in entsprechend umfassenden und konkreten Forschungsergebnissen für den Auftraggeber, die Republik Österreich, mün- den – im Zeitraum von drei Jahren.

Während zu Beginn der Tätigkeit der Schweizer Kommission noch von einem „Rich- teramt“ der Geschichte in der öffentlichen Diskussion die Rede war, das aber nicht dem Mandat entsprach, wurde von der österreichi- schen Kommission diese Metaebene sehr rasch aufgegeben. Sie reduzierte ihre Aufgabe auf die Rekonstruktion von Grundinformatio- nen. So legte die österreichische Historiker- Kommission nicht die Differenzierungs-Kate- gorien von Zwangsarbeiter/innen (zB nach Na- tionalität, Rechtsstatus etc) fest, sondern zähl- te alle Gruppen von zivilen Zwangsabeiter/in- nen summarisch ohne Wertung auf (inklusive der Arbeiter/innen aus Westeuropa oder der ausgebeuteten Kriegsgefangenen und italieni- schen Militärinternierten, die aber von vorne- herein nicht in eine Entschädigungsregelung aufgenommen werden sollten, um nicht die Gesamtthematik Kriegsgefangenschaft neu

„aufzuschnüren“).

8 BGBl 1995/432; www.nationalfonds.org.

9 Meissner (Hrsg), 10 Jahre Nationalfonds. Zahlen, Daten, Fakten (2005) 17.

10 E 90 (XX. GP) und E-176-BR. 11 www.historikerkommission.gv.at.

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FORUM PARLAMENTJg. 3, Nr. 2/2005 Gleichzeitig wurde das österreichische Par-

lament auch in Sachen Kunstgüterrestitution aus bundesstaatlichen Sammlungen und Mu- seen durch ein „Rückgabegesetz“ 199812 tä- tig, durch das bis dato 1.657 vor 1945 geraub- te Kunstgegenstände restituiert werden konn- ten.13 Ebenso wirksam wurden die Zahlungen für ehemalige Zwangs- und Sklavenarbeiter/

innen auf der Basis des Versöhnungsfondsge- setz aus 200014. In weiterer Folge wurde auch das Nationalfondsgesetz auf der Basis des Wa- shingtoner Abkommens erweitert, um durch den Entschädigungsfonds15, der am 31. Jänner 2001 vom Nationalrat und am 15. Februar 2001 vom Bundesrat einstimmig per Gesetz eingerichtet wurde, noch offene Vermögens- verluste entschädigen zu können. Anzumerken ist hierbei, dass Mietrechte bereits ab 2001 pauschal abgegolten werden.16

Der Nationalfonds und sein Kuratorium er- weiterten auch sukzessive den Opferbegriff und vergrößerte damit jenen Personenkreis, der Anspruch auf Leistungen aus dem Fonds hat: von Personen, die aus politischen Grün- den, Gründen der Abstammung, Religion, Na- tionalität verfolgt wurden bis hin zu Personen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung, auf- grund körperlicher oder geistiger Behinde- rung, aufgrund des Vorwurfs der „Asozialität“

oder aufgrund der typisch nationalsozialis- tischen Unrechtspolitik zu Opfern der NS-Ver- folgung geworden waren. Aktuell findet eine intensive Debatte über die „Wehrmachtsde- serteure“ als neue Opfergruppe statt. In dieser Hinsicht ist der Nationalfonds durchaus dem gesellschaftlichen Diskurs manchmal voraus.

Für Einstellungsänderungen sind die parla- mentarischen Vorbereitungen und Debatten sehr wichtig, da letztlich auch politisch ent- schieden werden muss, warum eine Entschädi- gung zu leisten ist. Wichtig ist in diesem Fall

die Rückkopplung zum öffentlichen Rechts- und Unrechtsbewusstsein. So hat beispiels- weise die Zwangs- und Sklavenarbeiter/innen- Entschädigung durch den österreichischen Versöhnungsfonds durchaus die öffentliche Einstellung in der österreichischen Gesell- schaft verändert. Über 131.000 Menschen ha- ben Zahlungen aus diesem Fonds erreicht.

Auch die Wechselwirkung zw der medialen Be- richterstattung und den parlamentarischen Prozessen bildet einen höchst positiven Mei- nungsbildungsfaktor.

Erklärungsversuch

Ein wesentliches Erklärungsmoment für diese verzögerte Reaktion ab 1995 ist sicherlich der Kalte Krieg – so banal dieser Hinweis auch sein mag. In „West“-Europa wurden sehr rasch nach Kriegsende gesellschaftsändernde Re- formprojekte, die eine umfassende politische und rechtliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und Holocaust inkludiert hätten, zu Gunsten einer stabilen und breiten antikommunistischen Allianz erheblich einge- schränkt. Es gab Entnazifizierungsgesetze und -maßnahmen in Deutschland (Ost- und West) oder Österreich, Kollaboranten wurden in Frankreich, den Niederlanden rechtlich ver- folgt und verurteilt – aber eine tiefgreifende gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, seinen Wurzeln und seinen Auswirkungen gab es nicht. Die anti-kommunistische Allianz wagte es nach 1945 nicht, die sensiblen Fragen, die die Kolla- boration im wirtschaftlichen Bereich in neutra- len Staaten, wie der Schweiz und Schweden, aber auch in Ländern mit starken Widerstands- gruppen (wie in Frankreich) aufgezeigt hätte, zu stellen und entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Selbst die USA unterstützten die jüdischen Wiedergutmachungsforderungen nur halbherzig.

Verstärkt wurde der Trend in Richtung eines raschen Schlussstrichs nach 1945 durch Nachkriegsmythen. Jedes Land versuchte sei- ne inneren Kriegswunden durch eine „natio- nale Doktrin“ zu heilen und damit intensiven gesellschaftspolitischen Diskussionen auszu- weichen. Parallel zu dieser Entwicklung domi- nierten zw 1945–1947 Nachkriegsprozesse mit 12 BGBl I 1998/181 und eine Nov des National-

fonds-Gesetzes BGBl I 1998/183.

13Khol, Vorwort, in: Parlamentsdirektion (Hrsg), Wege der Versöhnung. 10 Jahre Nationalfonds.

Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassis- mus im Gedenken an die Opfer des National- sozialismus (2005) 11.

14 BGBl I 2000/74.

15 BGBl I 2001/12.

16 BGBl I 2001/11.

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ARLAMENT, Nr. 0/2002FORUM PARLAMENTJg. 3, Nr. 2/2005

Fokussierung auf die ausführenden Täter, dh auf jene, die auf dem Gebiet der BRD, DDR oder in Österreich Verbrechen begangen hat- ten. Die Verfahren gegen übergeordnete Be- hörden und Entscheidungsstrukturen sowie die zahllosen Delikte außerhalb der Grenzen der BRD – in den Grenzen des Einflussberei- ches des Deutschen Reiches bis 1945 – und die

„Schreibtischtäter“ blieben großteils – wenn überhaupt – in Vorerhebungen stecken.

Im kommunistischen Osteuropa wurde zwar ein staatlicher Antifaschismus forciert;

man nahm auch eine entsprechende Wertung des anti-nationalsozialistischen Widerstandes vor, eine Restitution geraubten jüdischen Eigentums hat jedoch nur unter großen Schwierigkeiten und inkomplett stattgefun- den; va Verstaatlichungen entzogen jüdisches Eigentum den Eigentümern.

Es ist ein Phänomen, dass die Wiederauf- bau-Mythen europäischer Staaten bisher keine differenzierten Sichtweisen zuließen. Spätes- tens in den 1990-er Jahren wurden aber die Risse in diesen Wiederaufbaumythen größer;

differenziertere Interpretationen fanden und finden auch politische und öffentliche Reso- nanz – in vielen Fällen keineswegs als Mehr- heitspositionen, aber zumindest als „politische korrekte“ Position artikuliert.

Für die Dekonstruktion der Nachkriegs- mythen hat die österreichische Historikerkom- mission wie viele andere Kommissionen in Europa wichtige Vorarbeiten geleistet, die auch fortgesetzt werden. Inwieweit es gelingt, diese Dekonstruktionen auch in das breite öf- fentliche Bewusstsein zu bringen, hängt sicher- lich davon ab, inwieweit eine gesamtgesell- schaftliche Langzeitanalyse – unter Einschluss des NS-Themas und dessen Folgen – gelingt.

Nationalsozialismus und Faschismus in Europa haben sowohl eine Vor- als auch eine Nachge- schichte. Eine angemessene Gesamtanalyse ist eine Voraussetzung dafür, Einstellungsände- rungen zu erzielen.

Herausforderungen für die Zukunft

Der amerikanische Kulturanthropologe Elazar Barkan hat in seinem Buch „Guilt Among Na-

tions“17 zu recht die These aufgestellt, dass Restitution als kulturelles Konzept auch ein

„Verhandeln“ über Geschichte impliziert. Es wäre vermessen zu behaupten, dass damit der Opfernarrativ aufgelöst und in der zweiten oder dritten Generation im Narrativ der Täter-, Mittäter- oder Zuschauergesellschaft aufgeht, aber es wird zumindest Verständnis für die Traumatisierungen und das Unrecht, das der Nationalsozialismus auch den österreichischen Opfern zugefügt hat, geweckt.

Letztlich wird aber das kollektive Gedächt- nis nicht allein von der Politik und dem Parla- ment bestimmt oder nur in den Schulen ver- mittelt, sondern in der Familie und im persön- lichen Umfeld geformt. Nur wenn Politik und Aufklärung in diese privaten Bereiche perma- nent hineinwirken, bleibt eine kritische Analyse der jüngsten Vergangenheit präsent und wird nicht immer wieder durch internationale De- batten hervorgeholt, um dann zu höchst pein- lichen Analysen der Amnesie oder Vorurteils- bildung zu führen. Die Geschichtswissenschaft ihrerseits begann in den letzten Jahren wieder stärker in Richtung des gesellschaftlichen his- torischen Gedächtnisses zu arbeiten, wobei die Phase der Aufklärung über Antisemitismus und Nationalsozialismus in den 1970-er und 1980-er Jahren wichtig war und funktional in vielen Bereichen Wirkung gezeigt hat. Die postmoderne Ruhepause in vielen historischen Disziplinen beginnt zunehmend zu Ende zu ge- hen.

Gleichzeitig muss aber auch klar sein, dass Vergangenheit in der Gegenwart nicht nur den Nationalsozialismus und Holocaust umfassen kann. Wie stark historische Einstellungen und Bewertungen – beispielsweise in der Einschät- zung unserer osteuropäischen Nachbarn – bis herauf in die Gegenwart wirksam sind, doku- mentierte etwa der Diskurs über die Benesˇ- Dekrete und die Vertreibung der Sudetendeut- schen (ein Kapitel, das die Nachkriegseliten 1945 bewusst nicht politisch thematisiert hat- ten). Hier wurde in der Debatte über die EU- Erweiterung ein historisches Thema instrumen- talisiert, wobei die Vorurteile der Österrei- cher/innen gegenüber den Tschechen/-innen jenen der Zeit um 1900 entsprechen. Selbst in den negativen nationalen Zuschreibungen do- minieren die Worthülsen der Jahrhundertwen- 17Barkan, Guilt Among Nations (2000).

Referenzen

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