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Früher Bildungsabbruch – Neue Erkenntnisse zu Ausmaß und Ursachen

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Bildungsabbruch Kapitel 5

Einführung

Als frühe Bildungsabbrecher/innen1 oder Early School Leavers (ESL) werden Jugendliche im Alter von 18–24 Jahren definiert, die sich aktuell nicht in Aus- oder Weiterbildung befinden und keinen Abschluss über die ISCED-1997-Ebene 3C („Pflichtschule“) hinaus aufweisen können.2 Diese Jugendlichen stellen eine prioritäre Zielgruppe der europäischen Bildungs- politik dar, da mit Bildungsarmut starke Tendenzen sozialer Ausgrenzung verbunden sind, die den sozialen Zusammenhalt gefährden. Eine weitere Ursache für die Prioritätensetzung ist darin zu finden, dass die hochindustrialisierten Staaten der Europäischen Union (EU) im globalen Wettbewerb nur über Produktivitäts- und Innovationsvorteile bestehen können, wofür die Qualifikation der Bevölkerung die Grundvoraussetzung darstellt.

Der Ansatz des Beitrags „Früher Bildungsabbruch“ zum Nationalen Bildungsbericht 2015 ist es nicht so sehr, bekannte und u. a. im Nationalen Bildungsbericht 2009 elaborierte Erkennt- nisse zu diesem Thema (vgl. Steiner, 2009) zu wiederholen, sondern neuere Erkenntnisse und Datenbasen ins Zentrum zu rücken, um die Diskussion in Österreich dadurch ein Stück weit voranzubringen. Zu diesem Zweck erfolgt zunächst eine theoretische Aufarbeitung der The- matik (Abschnitt 1), wobei die Dichotomie individualisierender und systembezogener Erklä- rungsansätze herausgearbeitet wird. In der darauffolgenden Darstellung der Policy-Ansätze (Abschnitt 2) wird dabei offensichtlich, dass in Österreich (bislang) ein eher individualisierter Ansatz verfolgt wurde. Im Zuge der Diskussion neuerer Datenbasen (Abschnitt 3) zur Be- rechnung des Problemausmaßes in Österreich wiederum wird deutlich, dass ein einseitig auf das Individuum bezogener Ansatz nicht ausreichen wird, der Herausforderung zu begegnen, weshalb die in Abschnitt 4 dargestellten neuen Modelle zur Ursachenanalyse einen starken Schwerpunkt auf die Systemebene und den Beitrag überindividueller Faktoren zur Erklärung des frühen Bildungsabbruchs legen. Diese systemische Perspektive ist es schließlich auch, die der Analyse von Abbruchsbiografien (Abschnitt 5) zugrunde liegt, wodurch der Innovations- anspruch dieses Beitrags auch auf qualitativer Ebene unterstrichen wird.

Der gesamte Beitrag ist dem Querschnittsthema der Inklusion verpflichtet. Dies reicht von einer Differenzierung sämtlicher Berechnungen nach soziodemografischen Merkmalen (v. a.

was den Migrationshintergrund betrifft) bis hin zur theoretischen wie empirischen Diskussi- on von Ausgrenzungsmechanismen. Die dabei gesammelten Erkenntnisse, auch im Hinblick auf Gender, werden in den Abschlussbetrachtungen zusammengefasst.

1 Im Kontext des österreichischen Bildungssystems ist es sinnvoll, den Terminus Early School Leavers (ESL) nicht einfach mit „frühem Schulabgang“ zu übersetzen, da damit der Fokus einzig auf Vollzeit-Schulformen liegt und die duale Ausbildung nicht in den Blick gerät. Insofern ist es zielführender, von frühem (Aus-)Bildungsabbruch zu sprechen. Die Begriffe frühe Bildungsabbrecher/innen und ESL werden in weiterer Folge nicht synonym verwendet, sondern in Abhängigkeit von der Datenbasis, die zu deren Berechnung herangezogen wurde (siehe Abschnitt 3).

2 Von diesem Begriff ist jener der Not in Education, Employment or Training (NEET) zu unterscheiden. Die Un ter- schiede liegen im Bildungsniveau und im Beschäftigungsstatus. Während für den Begriff der frühen Bildungs- abbrecher/innen das niedrige Bildungsniveau konstitutiv ist, ist es für den Begriff der NEETs die Nichtteilnah- me am Erwerbsleben.

Frühe Bildungs abbrecher/

innen als prioritäre Zielgruppe europäischer Bildungspolitik

Neuere Erkenntnisse und Datenbasen im Zentrum des Beitrags

Früher Bildungsabbruch – Neue Erkenntnisse zu Ausmaß und Ursachen

Mario Steiner, Gabriele Pessl & Michael Bruneforth

DOI: http://dx.doi.org/10.17888/nbb2015-2-5

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1 Theoretische Ausgangsbasis

Zwei Grundüberlegungen stehen am Beginn. Erstens: Es ist nicht „zufällig“, wer seine (Aus-) Bildung abbricht und wer nicht, sondern in hohem Ausmaß v. a. vom Bildungshintergrund abhängig. Zweitens: Früher Bildungsabbruch wirkt langfristig. Im Kontext einer Gesell- schaft, in der das Bildungssystem als zentrale Statuszuweisungsinstanz fungiert, führt ein früher Abbruch zu Ausgrenzungen und Benachteiligungen im weiteren Lebensverlauf. Dies zeigt etwa die prekäre Positionierung früher Abbrecher/innen auf dem Arbeitsmarkt (Ab- schnitt 3; Steiner, 2009).

Mit diesen beiden Überlegungen trifft das Thema des Beitrags einen Kernbereich der Bil- dungssoziologie, nämlich soziale (Bildungs-)Ungleichheiten und deren Reproduktion. Fragen nach Chancen(un)gleichheit (Coleman, 1967), gesellschaftlich ungleich verteilten Vorteilen und Benachteiligungen (Mayer & Müller, 1976), der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit hierarchisch durchsetzten Kapitalverhältnissen (Bourdieu, 1976) und mit Bildungsarmut (Allmendinger, 1999) weisen eine lange Tradition auf. Seit den 2000er Jahren erleben sie im Zusammenhang mit dem Programme for International Student Assessment (PISA) eine Renaissance (Krüger, Rabe-Kleberg, Kramer & Budde, 2010; Solga & Becker, 2012). Dem- nach sind die Fragen, mit denen sich dieser Beitrag beschäftigt, nicht neu. Allerdings sind sie zum einen nach wie vor aktuell. Zum anderen sind sie im Rahmen eines Bildungssystems, das auf der Entscheidung zur Beibehaltung der institutionellen Trennung basiert (Solga &

Becker, 2012), ganz spezifisch zu stellen. In Österreich, mit seiner Vielzahl an unterschied- lichen Schulformen und der Trennung in akademische und berufsbildende Bildungswege so- wie Sonderschule, ist dies besonders deutlich. Diese institutionelle Trennung wird allerdings versteckt unter dem Mäntelchen einer formal weitgehenden Öffnung aller Bildungswege für alle – sofern die Leistungen passen. Gerade angesichts von Bildungsmöglichkeiten, die scheinbar allen offen stehen, ist nämlich ein „Scheitern“ mit besonderer Stigmatisierung und Ausgrenzung verbunden. Schließlich hätten ja alle ihre Chance gehabt. Ein Bruch in der Bil- dungsbiografie wird auf individuelles Fehlverhalten, insbesondere auf mangelnde Leistungen bzw. Leistungsbereitschaft zurückgeführt und damit wird Ungleichheit legitimiert (Bourdieu

& Champagne, 1997; Mayer & Müller, 1976).

In diesem Zusammenhang werfen Solga und Becker (2012) auch einen kritischen Blick auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Bildungsungleichheit. Laut der Autorin und dem Autor sind in der deutschen Bildungssoziologie seit den 1970er Jahren nämlich genau jene Ansätze überproportional vertreten, wonach Bildungswege das Ergebnis von individu- ellen, rationalen Entscheidungen sind. Unter dieser Perspektive liegen Erfolg und „Scheitern“

somit im individuellen Verantwortungsbereich. Dabei wird postuliert, dass Personen bzw.

Familien frei aus Handlungsalternativen wählen könnten. Ansätze, die sich direkt auf die Verfasstheit des Bildungssystems – also die institutionelle Ebene – beziehen, sind deutlich seltener. Solga und Becker weisen u. a. auf ein Fehlen von konflikttheoretischen Ansätzen hin: Mit diesen Ansätzen werden Fragen nach den Ursachen von Ungleichheiten gestellt, statt dabei stehen zu bleiben, Ungleichheit als gegeben anzunehmen (Solga & Becker, 2012, S. 20 f.). Das Bildungssystem wird als Teil der „herrschenden Ordnung“ zum Gegenstand der Analyse (Bourdieu, 1976, S. 227; Bourdieu & Passeron, 1971, S. 209–227).

Wie lässt sich vor diesem Hintergrund die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit frühem Bildungsabbruch einschätzen? Zur Beantwortung dieser Frage folgt nun ein kurzer Blick auf nationale und internationale Forschungsergebnisse zu ESL und Jugendlichen, die sich weder in Bildung noch in Beschäftigung befinden (Not in Education, Employment or Trai- ning [NEETs]), aus den vergangenen zehn Jahren. Zum einen wird damit ein einführender Überblick über zentrale Forschungsergebnisse geschaffen, zum anderen wird auf dieser Ba- sis herausgearbeitet, welche theoretischen Perspektiven den empirischen Arbeiten zugrunde liegen. Diese werden im Spektrum zwischen Mikro- und Makroansätzen verortet (vgl. auch Steiner, 2009). Auf der Mikroebene werden die Jugendlichen ins Zentrum gestellt und ihre

Kernbereich der Bildungssoziologie: soziale (Bildungs-)Ungleichheiten und deren Reproduktion

Bildungswege als Ergebnis individueller, rationaler Entscheidungen?

Früher Bildungsabbruch – Mikroebene vs.

Makroebene

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Bildungsabbruch Kapitel 5

Probleme bzw. ihr Handeln im Zusammenhang mit frühem (Aus-)Bildungsabbruch (FABA) analysiert. Auch wenn es um das Handeln von Personen aus Familie und sozialem Umfeld der Jugendlichen geht, wird analytisch auf der Mikroebene operiert. Auf der Mesoebene werden Schule bzw. Ausbildungsinstitutionen in den Fokus der Analysen gerückt. Auf der Makroebene schließlich geht es darum, Strukturen des Bildungssystems und anderer rele- vanter Teilsysteme dahingehend zu analysieren, inwiefern sie FABA fördern bzw. verhindern.

Eine ähnliche Systematisierung schlagen Nairz-Wirth, Meschnig und Gitschthaler (2010) vor. Sie unterscheiden in diesem Zusammenhang individuelle Risikoperspektive, familiale Strukturen, Peergroups und institutionelle Faktoren (Nairz-Wirth et al., 2010, S. 26 ff.).

Lyche (2010) unterscheidet individuelle und soziale Faktoren, Schulfaktoren und Systemfak- toren (Lyche, 2010, S. 15).

Die Zusammenschau von Abbruchsursachen zeigt ein heterogenes Bild (vgl. Tabelle 5.1).

Österreichische Studien fokussieren tendenziell auf die Mikro- sowie die Mesoebene. Die Beschäftigung mit der Makroebene findet sich eher in international-vergleichenden Studien.

Das hat auch mit dem empirischen Ansatz von Ländervergleichen zu tun, der diesen Studien zugrunde liegt. Die Verortung der Abbruchsursachen auf den unterschiedlichen Ebenen lässt unterschiedliche Schlussfolgerungen zu: Zusammenhänge zwischen familiärem Umfeld und Bildungsabbruch können auf der einen Seite so gedeutet werden, dass Bildungsabbruch als Resultat individueller Entscheidungen und Verhaltensweisen zu verstehen ist und die Ver- antwortung somit auf die individuelle Ebene (der Eltern) verlagert wird (vgl. dazu kritisch Krüger et al., 2010, S. 9). Auf der anderen Seite kann darüber hinaus hinterfragt werden, wa- rum familiäre Ressourcen überhaupt eine Voraussetzung für Erfolge in der Bildungslaufbahn darstellen. Damit wird wieder die institutionelle Ebene einbezogen, wenn es darum geht, frühe Abbrüche zu erklären. So werden auch in vielen Studien, die Ursachen auf der Mikro- ebene herausarbeiten, zugleich Aspekte auf der Meso- oder Makroebene identifiziert. Zum Teil fließen diese aber nicht systematisch in die Analyse, beispielsweise in die Typenbildung, ein (z. B. Bissuti et al., 2013; Enggruber, 2003; Nairz-Wirth et al., 2010; Nevala et al., 2011).

Im Rahmen dieses Beitrags wird eine Engführung auf die individuelle Ebene vermieden und der Ansatz geht in Richtung Dekonstruktion institutioneller Arrangements. In der Analyse von Policies (Abschnitt 2) geht es u. a. darum, herauszuarbeiten, inwiefern sie von individu- ellen oder institutionellen Erklärungsansätzen ausgehen. Das zeigt sich in den vorgeschla- genen Lösungsansätzen: Sollen Jugendliche eine zweite Chance erhalten oder sind Verände- rungen auf Systemebene geplant?

Im Rahmen der quantitativen und qualitativen Analysen in diesem Beitrag wird das Bil- dungssystem ein Stück weit in seiner Rolle für die Reproduktion sozialer Ungleichheit un- tersucht. Bei der Frage nach den Ursachen bzw. dem Zustandekommen von frühem Bil- dungsabbruch wird kritisch danach gefragt, welche Strukturmerkmale des Bildungssystems frühen Abbrüchen ursächlich zugrunde liegen, welche institutionellen Arrangements dabei eine Rolle spielen (Abschnitt 4) und wie diese in den Bildungsbiografien wirksam werden (Abschnitt 5). Auch wenn die „bekannten“ Risikofaktoren (wie Bildungshintergrund, Pro- bleme im familiären Umfeld) thematisiert werden, wird nicht auf einer individuellen Ebene stehen geblieben, sondern kritisch danach gefragt, warum das so sein „muss“.

Forschungsleitend ist die Perspektive, dass es nicht selbstverständlich ist, dass eine ungleiche Ausstattung mit kulturellem, ökonomischem und sozialem Kapital im Bildungssystem nicht kompensiert, sondern im Gegenteil, das Vorhandensein von Kapital vorausgesetzt wird, da- mit Bildungserfolge erzielt werden können (Solga & Becker, 2012). Mit anderen Worten geht es in der Analyse von frühem Bildungsabbruch auch um eine kritische Auseinandersetzung mit einer Schule, die „(…) implizit von denen, auf die sie einwirkt, verlangt, daß sie die für ihre volle Produktivität notwendigen Voraussetzungen besitzen“ (Bourdieu, 1976, S. 226).

Österreichische Studien fokussieren tendenziell auf die Mikro- sowie die Mesoebene

Dekonstruktion institutioneller Arrangements

Kritische

Auseinandersetzung mit impliziten Voraussetzungen für Schulerfolg

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Ursachen für/Aspekte im Zusammenhang mit

frühem Bildungsabbruch* Quellen Theoretische

Perspektive Analyse- ebene

§ Orientierungslosigkeit

§ Mangel an Motivation

§ Betreuungspflichten (für Kinder, Familienange­

hörige), frühe Schwangerschaften

§ Interessen liegen in der Freizeit

§ Sprachbarrieren

§ gesundheitliche (auch psychische) Beeinträchti­

gungen, Traumata

§ abweichendes Verhalten, abweichende Lebensstile

§ fehlende schulische und soziale Kompetenzen

§ mangelnde schulische Leistungsfähigkeit, Lernbeeinträchtigung

§ Wohnungslosigkeit

§ Minderheitenzugehörigkeit

Bacher et al., 2013; Bissuti et al., 2013; Bridgeland, Dilulio & Morison, 2006; Enggruber, 2003; Nairz­

Wirth et al., 2010; Nevala &

Hawley, 2011; Pessl, Steiner &

Wagner, 2015; Rumberger & Lim, 2008; Schönherr, Zandonella &

Wittinger, 2014; Spielhofer et al., 2009; Stamm, Holzinger­Neulinger

& Suter, 2011; Traag & van der Velden, 2008; Tunnard, Barnes &

Flood, 2008.

Das Individuum, das abbricht.

Probleme und Verhalten von Jugend­

lichen als Ursache für FABA.

Mikroebene

§ niedriger Arbeitsmarktstatus der Eltern

§ niedriger Bildungsstand der Eltern

§ Minderheitenzugehörigkeit

§ mangelnde Unterstützung

§ geringe Bildungsaspiration

§ zu hohe Bildungsaspiration

§ alleinerziehende Familienstrukturen

§ Beziehungsabbrüche, Trennungen

§ Gewalt

§ Delinquenz in Familie und Peergroup

§ gesundheitliche (auch psychische) Beeinträchti­

gungen

§ Überbehütung

Bacher et al., 2013; Bissuti et al., 2013; Nairz­Wirth et al., 2012;

Nairz­Wirth, Gitschthaler &

Feldmann, 2014; Nesse, 2010;

Nevala et al., 2011; Perchinig &

Schmid, 2012; Rumberger & Lim, 2008; Stamm et al., 2011; Steiner

& Wagner, 2007.

Die Rolle von Individuen aus Familie und sozialem Umfeld; ihr Handeln und Unterlassen als Erklärungsfaktor für Bildungsverläufe der Kinder inkl. FABA.

§ negative Beziehungen im Klassenzimmer bzw.

Ausbildungsbetrieb

§ Mobbing

§ Mangel an Unterstützungsstrukturen

§ schlechtes Schüler­Lehrer­Verhältnis

§ Push­out durch Lehrkräfte

§ schlechtes Schulklima

§ Diskriminierung

§ Curricula bzw. Lehrmethoden zu wenig auf unterschiedliche Bedürfnisse zugeschnitten

§ unproduktive institutionelle Reaktionen auf Schulabsentismus

Bacher et al., 2013; Bissuti et al., 2013; Nairz­Wirth et al., 2012;

Nairz­Wirth, Gitschthaler &

Feldmann, 2014; Nesse, 2010;

Nevala et al., 2011; Perchinig &

Schmid, 2012; Rumberger & Lim, 2008; Stamm et al., 2011; Steiner

& Wagner, 2007.

Organisation von Schule bzw. Ausbildungsinstitu­

tion als Ursache für FABA, institutionelle Praktiken.

Mesoebene

§ Early Tracking und Vielfalt an Übergängen

§ Klassenwiederholungen

§ Schulkomposition

§ strukturell verankerte Defizitorientierung

§ vorgesehenes Elternengagement

§ Eintrittsalter in (Vor­)Schulbildung

§ Entwertung außerhalb von Österreich erworbener Bildungszertifikate

§ gesellschaftliche Leistungsnormen

§ zunehmende Leistungsselektion

§ Marktbenachteiligungen, Konkurrenz bei der Lehrstellensuche

§ Struktur der Arbeitsmärkte, Übergangssysteme

§ Ausbaugrad der Berufsbildung

§ Beschäftigungsmöglichkeiten Geringqualifizierter

Bacher et al., 2013; Crul et al., 2012; Enggruber, 2003; Kritikos &

Ching, 2005; Moser & Lindinger, 2015; Nairz­Wirth et al., 2014;

Nevala & Hawley, 2011; OEDC 2012; Steiner & Lassnigg, 2009;

Steiner, Wagner, Pessl & Plate, 2010; Van Elk, Van der Steeg &

Webbink, 2009; Woessmann, 2010.

Verfasstheit des Bildungssystems und anderer Subsysteme sowie Zusammenhänge dazwischen als Erklärungsfaktor für FABA.

Makroebene

Tab. 5.1: Systematisierung zentraler Forschungsergebnisse zu FABA

Anmerkungen: *Nicht immer geht es in den Studien dezidiert um die Analyse von Ursachen für frühen Bil­

dungsabbruch. Zum Teil geschieht dies eher implizit, indem Risiken für frühe Abbrüche oder Problema­

tiken in Zusammenhang damit herausgearbeitet werden. FABA: frühe (Aus­)Bildungsabbrecher/innen.

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5

Bildungsabbruch Kapitel 5

Bourdieu (1976) bezieht sich mit den „notwendigen Voraussetzungen“ (S. 226) an dieser Stelle auf Werkzeuge, mithilfe derer Schüler/innen sich kulturelles Kapital aneignen und damit schulische Erfolge erzielen können. Er kritisiert, dass diese Werkzeuge eben nicht im Rahmen von Schule vermittelt, sondern als gegeben vorausgesetzt werden. Sie müssen also im Rahmen familiärer Erziehung erworben werden und zwar im Rahmen jener Art von Erziehung, wie sie in den oberen Schichten stattfindet. Damit erklärt er, warum Schule nur voll wirksam ist, wenn es sich um Kinder aus den oberen Schichten handelt. Dies ist ein Kernstück von Bourdieus Theorie zur Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheit im Bil- dungssystem (Bourdieu, 1976, S. 225–227).

Aktuelle Beispiele für solche notwendigen Voraussetzungen für schulischen Erfolg wären das Beherrschen der deutschen Sprache bei Schuleintritt, elterliche Unterstützung bei den Haus- übungen oder auch finanzielle Ressourcen, um Nachhilfe zukaufen zu können (Institut für empirische Sozialforschung [IFES], 2015). Ein Anliegen des vorliegenden Beitrags ist es, solche Implikationen auf Systemebene herauszuarbeiten und sie hinsichtlich ihrer Funkti- onsweisen und Wirkungen kritisch zu analysieren. Der Beitrag steht demnach in einer kon- flikttheoretischen Tradition.

Schließlich muss eingeschränkt werden, dass die dargestellten Forschungsergebnisse zu frü- hem Bildungsabbruch einen Ausschnitt aus diesem komplexen Phänomen umreißen. Der Spielraum für weitere Forschung ist nach oben hin jedenfalls noch offen.

2 Policies im Kontext von frühem Bildungsabbruch

3

Frühe Bildungsabbrecher/innen stellen eine prioritäre Zielgruppe nationaler und internati- onaler Bildungspolitik dar. Dementsprechend erfolgt in diesem Abschnitt eine Darstellung ebendieser, wobei immer engere Kreise gezogen werden. Beginnend bei der supranationalen Bildungspolitik auf EU-Ebene folgt eine Unterscheidung verschiedener Ansätze anhand eines internationalen Vergleichs ausgewählter Länder, bevor auf die Situation und den Ansatz in Österreich eingegangen wird.

2.1 Supranationale Bildungspolitik

Im Rahmen der Lissabon-Strategie, die darauf ausgerichtet war, die Europäische Union bis zum Jahr 2010 zum dynamischsten und wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu entwickeln, wurde das Ziel formuliert und nunmehr innerhalb der neuen Strategie „Europa 2020“ (Europäische Kommission, 2010, S. 14) bekräftigt, den Anteil von ESL europaweit zu senken (Europäischer Rat von Lissabon, 2000, S. 9). Der ursprüngliche Handlungsauftrag an die einzelnen Mitgliedsstaaten bestand darin „die Schulabbrecherquote entsprechend der Zahl aus dem Jahr 2000 mindestens (zu) halbieren (…), sodass ein EU-Durchschnitt von höchstens 10 % erreicht wird“ (Europäischer Rechnungshof, 2006, S. 4). Bei der Erneuerung der ESL-Zielsetzung im Rahmen der Strategie Europa 2020 wurde auf die Aufforderung einer Halbierung der Quote in jedem Land verzichtet, sondern es den Mitgliedsstaaten über- tragen, sich selbst (ambitioniertere) Ziele in Abhängigkeit von der jeweiligen Ausgangssitua- tion zu wählen.

Das Erreichen des Zehn-Prozent-Ziels auf gesamteuropäischer Ebene bis zum Jahr 2020 er- scheint realistisch, wenn man die in Abbildung 5.1 dargestellte Entwicklung des Anteils von ESL über die letzten 15 Jahre hinweg betrachtet:

3 Einige der folgenden Textpassagen sind folgender Publikation entnommen: Steiner, M. (2015a).

Notwendige Voraussetzun- gen: z. B. Beherrschen der deutschen Sprache, elter liche Unterstützung, finanzielle Ressourcen

Senkung des ESL-Anteils als europaweites Ziel in Abhängigkeit von jeweiliger Ausgangssituation

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5

Abb. 5.1: ESL-Raten im europäischen Vergleich (2000–2014)

Anmerkung: ESL: Early School Leavers.

Quelle: Eurostat. Berechnung und Darstellung: IHS.

Demnach hat sich der Anteil in der EU von 17,6 % im Jahr 2000 auf 11,4 % im Jahr 2014 reduziert. Die Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten sind ebenfalls zurückgegangen und reichen im Jahr 2014 von 22,3 % in Spanien bis zu 5,5 % in der Tschechischen Repu- blik, während sich die Spanne im Jahr 2000 noch von 54 % bis 10 % bewegt hatte.4 Öster- reich ist mit einem Anteil von 7,0 % im Jahr 2014 auf Grundlage dieser Datenbasis sehr gut positioniert (zur vertieften Diskussion des Ausmaßes in Österreich vergleiche Abschnitt 3).

Wie die Gesamtergebnisse streuen auch die Unterschiede nach Geschlecht in Europa deut- lich. In allen EU-Staaten (außer Bulgarien) sind männliche Jugendliche stärker betroffen als weibliche. Die für männliche Jugendliche ungünstige Situation reicht von einem Überhang, der in der Slowakei bei nur 0,3 Prozentpunkten liegt, bis zu einem Überhang von 8,3 Pro- zentpunkten in Zypern. Österreich weist nur einen relativ geringen Gender-Gap von 1,1 Prozentpunkten auf.

Auf politischer Ebene besteht die Strategie der Europäischen Union darin, den Mitglieds- staaten die Entwicklung einer eigenen Strategie zur Reduzierung von frühem Bildungsab- bruch nahezulegen und dafür Empfehlungen auszusprechen. Die thematische Arbeitsgruppe der Europäischen Kommission zur Reduzierung von frühem Bildungsabbruch (European Commission, 2013) unterstreicht die Notwendigkeit eines langfristigen politischen und fi- nanziellen Engagements der öffentlichen Hand sowie die Unabdingbarkeit einer starken Ko- ordination und Kooperation. Die Empfehlungen des Europäischen Rats (European Council, 2011) sind es darüber hinaus, durch Forschung und Analysen ein Verständnis für das Early School Leaving im eigenen Land aufzubauen sowie eine breite Vernetzung und Zusammen- arbeit von Stakeholdern und Akteurinnen und Akteuren zu forcieren. Was die Ebene kon- kreter Maßnahmen betrifft, wird angeregt, eine breite Strategie zu verfolgen, die Prävention, Intervention und Kompensation zugleich umfasst. Kompensationsangebote richten sich da- bei an Zielgruppen, die bereits vorzeitig das Bildungssystem verlassen haben. Präventions- und Interventionsmaßnahmen versuchen demgegenüber den Abbruch zu verhindern oder die Problematik erst gar nicht entstehen zu lassen. Beispiele für Präventionsmaßnahmen

4 Spannweite und Dynamik der Entwicklung in Europa bestimmen die Auswahl der Staaten. Darüber hinaus sind Länder in die Darstellung integriert, die anschließend noch bei der Diskussion des politischen Ansatzes hervorgehoben werden.

Nationale Strategien zur Reduzierung von frühem Bildungsabbruch umfassen idealerweise Prävention, Intervention und Kompensation

ESL-Raten (in %)

10 60

Abb. 5.1: ESL-Raten im europäischen Vergleich (2000 bis 2014)

50

40 30 20

2001 0

2000 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014

Tschechische Republik Portugal

Malta Spanien Italien Frankreich

Niederlande Irland Österreich EU-27

Quelle: EUROSTAT, Berechnung und Darstellung: IHS.

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Bildungsabbruch Kapitel 5

wären die Erhöhung von Flexibilität sowie Durchlässigkeit des Bildungssystems und für In- terventionsmaßnahmen die Etablierung von Frühwarnsystemen. Beispiele für Kompensati- onsangebote sind alle Ausbildungen der zweiten Chance.

Walther und Pohl (2006) entwickeln in ihrer Studie „Thematic Study on Policy Measures concerning Disadvantaged Youth“ im Auftrag der Europäischen Kommission, in der die Strategien von 13 Staaten verglichen worden sind, eine etwas andere Typologie von Maß- nahmen zur Unterstützung von benachteiligten Jugendlichen. Darin wird u. a. zwischen den beschäftigungszentrierten Ansätzen in Mitteleuropa und den universalistischen Ansätzen zur Unterstützung benachteiligter Jugendlicher in den skandinavischen Staaten unterschieden.

Beim universalistischen Ansatz wird die Ursache für frühen Bildungsabbruch in der Unfä- higkeit des Bildungssystems gesehen, alle Potenziale der Jugendlichen zu nützen. Dement- sprechend liegt der primäre Ansatz in der Potenzialentfaltung. Typische Maßnahmen sind Aktivierungen, Orientierungen, Beratungen sowie Systemreformen. Dem steht der beschäf- tigungszentrierte Ansatz gegenüber, bei dem die Problemursachen in individuellen Defiziten gesehen werden, die es zu kompensieren gilt. Dem entspricht es, als Ansatz die Defizitkom- pensation zu wählen, also vor allem Maßnahmen zur Nachschulung und Arbeitsmarktinte- gration zu setzen. Umgelegt auf die zuvor diskutierte Trias von Prävention, Intervention und Kompensation entspricht der universalistische Ansatz der Prävention bzw. Intervention und der beschäftigungszentrierte Ansatz der Kompensation.

2.2 Internationale bildungspolitische Ansätze

Die Strategieansätze der einzelnen Mitgliedsstaaten, um gegen frühen Bildungsabbruch vor- zugehen, unterscheiden sich darin, wie die Schwerpunktsetzung innerhalb der Trias von Prä- vention, Intervention und Kompensation erfolgt. Die Niederlande, Irland und Frankreich können als prototypische Vertreter verschiedener Policy-Ansätze gegen frühen Bildungsab- bruch angeführt werden, welche die Schwerpunkte ihrer Strategien jeweils unterschiedlich setzen.5 Während die Strategie der Niederlande starke Präventionsmerkmale aufweist, liegt der irische Schwerpunkt auf Intervention und jener Frankreichs auf Kompensation.

Die niederländische Strategie gegen frühen Bildungsabbruch (Aanval op schooluitval) setzt auf Prävention über Systemsteuerung. Dies drückt sich auf mehreren Ebenen aus: Auf einer Governance-Ebene schließt das niederländische Bildungsministerium mit den verschiedenen Regionen und deren Schulen einen Vierjahresvertrag, in dem die vereinbarten Ziele im Hin- blick auf frühen Bildungsabbruch festgehalten werden. Die Regionen und Schulen sind relativ frei in der Wahl der Maßnahmen, die sie zur Zielerreichung setzen wollen. Innerhalb des Mi- nisteriums wiederum ist eine eigene Abteilung eingerichtet worden, deren Regionalmanager/

innen sich um die Aushandlung der Verträge, das Monitoring der Fortschritte sowie die Un- terstützung der regionalen Akteure bemühen. Auf Ebene der Finanzierung wird eine Indika- torenbindung umgesetzt. So wird die Zuteilung von Finanzmitteln an die einzelnen Schulen auch abhängig von der soziodemografischen Zusammensetzung gestaltet. Schulen mit un- terstützungsintensiveren Schülerinnen und Schülern bekommen mehr Ressourcen zugeteilt.

Darüber hinaus wird der Erfolg in den Bemühungen gegen frühen Bildungsabbruch finanziell vergütet. Die niederländische Strategie fußt schließlich auf einem elaborierten Monitoring der laufenden Bildungsprozesse, wobei alle Aggregationsebenen von einzelnen Schulen bis hin zum nationalen Ergebnis reichen. Auf diese Weise wird auch das Ergebnis auf Schulebene einem Monitoring unterzogen und vergleichbar. Die durch das Monitoring offenkundige mehr oder minder erfolgreiche Umsetzung der Strategie gegen frühen Bildungsabbruch durch einzelne Schulen schafft die Basis für ein Benchmarking, die Identifikation von Good-Practice- Beispielen und das gegenseitige Lernen voneinander (European Commission, 2013).

5 Der primäre Grund für die Auswahl dieser Länder liegt in ihrer Funktion, als Prototypen für Prävention, Inter- vention und Kompensation gelten zu können. Insofern wäre es auch möglich, andere Länder zu wählen, zumal die beabsichtigte Erkenntnis nicht in der Darstellung der Interventionsstrategie eines bestimmten Landes liegt, sondern darin, die Differenz der Ansätze im Vergleich zueinander anhand von Beispielen zu explizieren.

Beschäftigungszentrierte Ansätze in Mitteleuropa versus universalistische Ansätze in skandinavischen Staaten

Niederländische Strategie gegen frühen Bildungsabbruch setzt auf Prävention über Systemsteuerung

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5

Im Zentrum der irischen Strategie gegen frühen Bildungsabbruch, die als Prototyp für einen Interventionsansatz gelten kann, steht das Programm „Delivering Equality of Opportunity in Schools“ (DEIS). Dabei handelt es sich um einen Aktionsplan zur Bildungsinklusion.

Der Plan fokussiert auf Kinder und Jugendliche (von 3–18 Jahren) aus sozial bzw. ökono- misch benachteiligten Gemeinden bzw. sozialen Communities. Der Aktionsplan umfasst ein integriertes Unterstützungsprogramm für Schulen mit hoher Konzentration an Benachtei- ligung – das „New School Support Programme“ (SSP). Im Rahmen dieses Programms ist u. a. die Senkung der Klassenschülerzahlen, der Einsatz von Unterstützungslehrerinnen und -lehrern, Förderunterricht zur Verbesserung der Lesefähigkeit, Weiterbildungsmöglichkeiten für Lehrer/innen und Schulleiter/innen sowie Gratisessen an den Schulen vorgesehen. Er- gänzt wird das Schulunterstützungsprogramm u. a. durch das „Home School Community Liaison Scheme“ (HSCL). Diese Maßnahme richtet sich primär an die Erwachsenen (v. a.

Eltern), die als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren die Schüler/innen beeinflussen.

Durch Hausbesuche wird Kontakt aufgenommen und versucht, Vertrauen aufzubauen. Teil des Programms ist, bei den Eltern das Bewusstsein über ihre eigenen Fähigkeiten zu wecken bzw. sie in ihrer Entwicklung zu unterstützen, damit sie ihrerseits ihre Kinder unterstützen können (Steiner & Wagner, 2007, S. 36 ff.), eine positive Assoziation zu Qualifikation und Bildung entwickeln und damit dazu beitragen, dass Jugendliche in benachteiligten Regionen und Städten möglichst lange im Bildungssystem verbleiben.

In Frankreich ist demgegenüber der Aspekt der Kompensation und dabei wiederum die Ko- operation zwischen den verschiedenen Akteuren sehr stark ausgeprägt. Auf oberster Verwal- tungsebene sind in Frankreich bis zu acht Ministerien in einem kontinuierlichen Dialog miteinander eingebunden, um die Strategie gegen frühen Bildungsabbruch zu koordinieren und aufeinander abzustimmen. Unterhalb dieser interministeriellen Koordination wurden 360 lokale Plattformen eingerichtet, die in Kooperation mit allen Stakeholdern arbeiten, die im Bereich Bildung, Jugendarbeit, Bildungsberatung, Beschäftigung, Gesundheit und Justiz aktiv sind. Das Ziel ist es, koordinierte und maßgeschneiderte Unterstützungsangebote für frühe Bildungsabbrecher/innen zur Verfügung zu stellen. Die lokalen Plattformen erhalten detaillierte Informationen aus dem nationalen Monitoringsystem, die bis hin zu Namenslis- ten von ESL reichen. Derart soll es ermöglicht werden, die „herausgefallenen“ Jugendlichen gezielt anzusprechen. Eine Maßnahme, um frühe Abbrecher/innen zu reintegrieren, sind die Microlycées, die an den Schulen auf der Sekundarstufe eingerichtet worden sind. Diese rich- ten sich an Jugendliche im Alter von 16 bis 25 Jahren, die seit mindestens 6 Monaten ihre Bildungslaufbahn beendet haben. Das Ziel ist es, den Sekundarschulabschluss nachzuholen (Kompensation). Eine Herausforderung ist hier die erwachsenen- bzw. abbrechergerechte Gestaltung des Angebots (European Commission, 2013).

Diese drei Staaten, die zwar alle Präventions-, Interventions- und Kompensationsmaßnahmen anwenden, dabei aber ihre Schwerpunkte unterschiedlich setzen, waren alle erfolgreich in der Bekämpfung von frühem Bildungsabbruch – die einen mehr, die anderen weniger. Irland konnte seinen ESL-Anteil von 18,9 % im Jahr 1997 auf 6,9 % im Jahr 2014 senken. Die Niederlande zeigen eine Entwicklung von 17,6 % im Jahr 1996 auf 8,7 % im Jahr 2014.

Frankreich schließlich weist einen Rückgang des ESL-Anteils von 14,9 % im Jahr 1998 auf 9,0 % im Jahr 2014 auf. Im Ausmaß der Reduktion des ESL-Anteils im Vergleich der drei Staaten zeigen sich Evidenzen für Vorteile des Präventions- und Interventionsansatzes gegen- über der Kompensation, wie dies auch in anderen Studien herausgearbeitet wird (Wössmann

& Schütz, 2006).

2.3 Der bildungspolitische Ansatz gegen frühen Bildungsabbruch in Österreich

In Österreich hat sich der Anteil früher Bildungsabbrecher/innen von 10,8 % im Jahr 1997 auf 7,0 % im Jahr 2014 verringert und kann also ebenfalls als erfolgreich gelten. An dieser Stelle stellt sich nun die Frage, wie der österreichische Ansatz gegen frühen Abbruch der Bil-

Irische Strategie als Prototyp für einen Interventionsansatz

Frankreich setzt auf Kompensation und Kooperation zwischen den verschiedenen Akteuren

(9)

5

Bildungsabbruch Kapitel 5

dungslaufbahn einzuordnen ist und zu dieser Reduzierung des ESL-Anteils beigetragen hat.

In der erwähnten Studie von Walther und Pohl (2006) wurde der österreichische Ansatz als

„beschäftigungszentriert“ und damit implizit als kompensatorisch eingestuft. Arbeitsmarkt- politische Maßnahmen wie die Überbetriebliche Lehrausbildung (ÜBA) oder Kompensa- tionsangebote wie Kurse zum Nachholen des Haupt- bzw. Pflichtschulabschlusses standen (und stehen) hierzulande im Vordergrund. Seit der Klassifizierung des Ansatzes in Österreich als beschäftigungszentriert-kompensatorisch sind jedoch beinahe 10 Jahre vergangen und die Maßnahmenlandschaft in Österreich hat in der Zwischenzeit einige wesentliche Neuerungen erfahren, die die Eindeutigkeit der Positionierung Österreichs im Bereich der Kompensation abschwächt. Erstens wurde mit dem Jugendcoaching eine Maßnahme in systemrelevanter Größe etabliert, die anstelle des Kompensationsbereichs den Interventionsbereich deutlich verstärkt und einsetzt, bevor der Abbruch noch stattgefunden hat. Mit über 35.000 Teilneh- merinnen und Teilnehmern im Jahr 2014 (31.260 im Jahr 2013) setzt diese vom Bundesmi- nisterium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz (BMASK) initiierte und finanzierte Maßnahme im 9. Schuljahr an und zielt darauf ab, durch Beratung, Betreuung, Orientierung und Vermittlung abbruchgefährdete Schüler/innen zu einem Verbleib im Bildungssystem zu motivieren.6

Die zweite wesentliche Entwicklung kann in der Formulierung einer nationalen Lifelong- Learning-(LLL-)Strategie (Republik Österreich, 2011) sowie einer Strategie zur Verhinde- rung von frühem Ausbildungsabbruch gesehen werden (Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur [BMUKK], 2012). Die LLL-Strategie ist sehr ambitioniert im Hinblick auf die Zielsetzung. Bis 2020 soll der Anteil an frühen Bildungsabbrecherinnen und -abbre- chern auf 6 % gesenkt werden, was v. a. im Lichte der neuen Berechnungen zum Problem- ausmaß, die im Anschluss dargestellt werden und im Vergleich zu den bisher bekannten Werten ein deutlich erhöhtes Problemausmaß offenbaren (vgl. Abschnitt 3), als ambitioniert gelten kann. Die ESL-Strategie wiederum summiert eine Menge von Maßnahmen gegen frühen Bildungsabbruch, die insgesamt allen drei Säulen von Prävention, Intervention und Kompensation zugeordnet werden können. In Summe ist die Anzahl der in der Strategie aufgeführten Maßnahmen durchaus beachtlich und die Strategie enthält viele Initiativen, wie z. B. das zuvor erwähnte Jugendcoaching oder das kostenlose verpflichtende Kindergar- tenjahr, die strategisch betrachtet am richtigen (weil bedarfsentsprechenden) Punkt ansetzen.

Eine erschwerende Ausgangsbedingung der ESL-Strategie ist jedoch, dass es sich in weiten Bereichen um eine Auflistung an sich bereits bestehender oder singulär geplanter Maßnah- men handelt. Daher kann ein zentraler Aspekt einer Strategie, nämlich die strategische Ab- stimmung von Maßnahmen zur konzertierten Zielerreichung, nicht eingelöst werden. Auf dieser Grundlage wird ein Monitoring „of the strategy as a whole“ sehr schwierig und ihr Fehlen von der Europäischen Kommission auch kritisiert. Zudem ist mit der Umsetzung der Strategie kein ressortübergreifendes Koordinationsgremium etabliert worden, dem ein geson- dertes Budget zur Verfügung stehen würde (European Commission, Education Audiovisual and Culture Executive Agency [EACEA], Eurydice & European Centre for the Development of Vocational Training [Cedefop], 2014, S. 54).

Eine entscheidende Funktion bei der weiteren Entwicklung des Maßnahmenansatzes in Ös- terreich kann der vom BMASK, dem Bundesministerium für Bildung und Frauen (BMBF), dem Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft (BMWFW) und dem Bundesministerium für Jugend und Familie (BMFJ) betriebenen „Ausbildung bis 18“7 zu- kommen, womit eine weitere wesentliche Entwicklung benannt ist. In Weiterentwicklung der Ausbildungsgarantie, deren Wurzeln bis 1998 zurückreichen, ist, beginnend mit dem Schuljahr 2016/17, zwar nicht geplant, die Schulpflicht bis zum Alter von 18 Jahren anzu- heben, aber eine Aus- oder Weiterbildung bis zu diesem Alter soll obligatorisch sein (Aus- bildungspflicht). Diese Aus-/Weiterbildung kann auch im Rahmen von Maßnahmen aktiver

6 Siehe http://www.neba.at/jugendcoaching/warum.html [zuletzt geprüft am 23.12.2015].

7 Siehe http://www.bmfj.gv.at/dam/jcr:5f5f5149-53ca-4ae6-8bc1-5a613f6af2eb/03_Ausbildung%20bis%2018.

pdf [zuletzt geprüft am 25.11.2015].

Nationale LLL-Strategie setzt ambitioniertes Ziel

„Ausbildung bis 18“ hat entscheidende Funktion bei weiterer Entwicklung des Maßnahmenansatzes in Österreich

Österreichs Ansatz kann als vorwiegend kompensatorisch gelten

(10)

5

Arbeitsmarktpolitik erfolgen, wodurch ein grundlegender Unterschied zu einer einfachen Verlängerung der Schulpflicht etabliert wird. Das Ziel bleibt jedoch, einen Sekundarstu- fe-II-Abschluss zu erlangen und derart den frühen Bildungsabbruch zu reduzieren. Da hier ein neues Angebots- und Unterstützungssystem in Kooperation von vier Ministerien aufge- baut wird, besteht in dieser Initiative die Chance auf ein strategisch koordiniertes Vorgehen zur Zielerreichung, worin bisher keine Stärke des österreichischen Ansatzes gegen frühen Bildungsabbruch gelegen ist.

Wie wichtig Initiativen wie die Ausbildung bis 18 sind, wird im anschließenden Abschnitt deutlich, wenn die neuen Daten und Analyseergebnisse zum Ausmaß des frühen Abbruchs zur Diskussion stehen.

3 Neue Daten zu Ausmaß und Verlauf des frühen Bildungsabbruchs

Seit dem Nationalen Bildungsbericht 2009 (Specht, 2009a, 2009b) hat sich die Datensitua- tion, was frühen Bildungsabbruch betrifft, grundlegend verändert. Zwar ist es immer noch so, dass im internationalen Vergleich die ESL-Quoten auf Basis des „Labour Force Survey“

(LFS) berechnet werden und in diesem Kontext auch ihre Berechtigung haben. National steht nunmehr mit dem „Bildungsbezogenen Erwerbskarrierenmonitoring“ (BibEr) aber eine deutlich verbesserte Datenbasis zur Verfügung. Besser ist diese Datenbasis, weil es sich hierbei um eine Vollerhebung auf Grundlage von Verwaltungsdaten handelt, während der LFS nur eine Ein-Prozent-Stichprobe darstellt, die mit entsprechenden Schwankungen und Unsicher- heiten einhergeht. Zudem handelt es sich auch nur um Befragungsdaten, die gerade in so sensiblen Bereichen wie der Bildungsarmut mit Validitätsproblemen zu kämpfen haben. Die Vorzüge des BibEr liegen auch darin, dass nunmehr deutlich tiefergehende Analysen möglich sind und deshalb z. B. auch Anteile frühen Bildungsabbruchs auf Ebene politischer Bezirke berechnet werden können. Neue Möglichkeiten bietet auch das „Qualitätsmanagement Leh- re“, denn auf dieser Datenbasis ist es möglich, die Frage des frühen Abbruchs erstmals für das duale System zu beantworten. War es bislang unmöglich, Anteile früher Abbrecher/innen für die Lehre zu berechnen, weil die Bestandsdatenbasis der Lehrlingsstatistik nicht erlaubte, einen Wechsel von einem Abbruch zu unterscheiden, kann jetzt hinsichtlich der Frage nach dem Ursprung des frühen Abbruchs im Bildungssystem auch die Lehre miteinbezogen wer- den. Schließlich erlaubt es die Bildungsdokumentation (BilDok), Anteile früher Abbrecher/

innen bis auf die Schulebene herunterzubrechen und so Abbruchsanteile für Schulstandorte sowie die Variation innerhalb von Schulformen und zwischen diesen zu bestimmen. Diese drei neuen Datenbasen werden im Anschluss herangezogen, wenn das Ausmaß und die Ver- teilung des frühen Abbruchs das Thema darstellt. Die neuen Analysegrundlagen geben aber nicht nur verbesserte Auskunft über das Ausmaß, sondern auch über den Verlauf im An- schluss an den frühen Abbruch. So erlaubt es das BibEr, den Arbeitsmarktstatus der frühen Abbrecher/innen 24 Monate lang nach ihrem Abbruch zu beobachten.

3.1 Ausmaß und Verteilung des frühen Abbruchs insgesamt

Das Ausmaß des frühen Abbruchs variiert sehr stark in Abhängigkeit davon, welche Daten- basis für die Berechnung herangezogen wird. Auf Basis des LFS werden für das Jahr 2010 nur 8,3 % (2011: 8,5 %; 2012: 7,8 %) der 18- bis 24-Jährigen ausgewiesen, die sich nicht in Ausbildung befinden und keinen Abschluss über die Pflichtschule hinaus aufzuweisen haben.

Auf Basis des BibEr sind es im gleichen Jahr8 15,5 % oder 110.000 Jugendliche im Alter von 18 bis 24 Jahren und damit beinahe doppelt so viele. Wählt man eine Altersabgrenzung von 15 bis 24 Jahren – die im Kontext der Struktur des österreichischen Bildungssystems

8 Die Quoten zu frühen (Aus-)Bildungsabbrecherinnen und -abbrechern (FABA) sind im Vergleich zu den Early- School-Leaver-Daten etwas „veraltet“, weil immer auch eine Nachbeobachtungsphase des Arbeitsmarktstatus für 24 Monate nach dem Abbruch enthalten ist.

Datensituation zum frühen Bildungsabbruch hat sich in letzten Jahren grundlegend verändert

Auf Basis des BibEr beinahe doppelt so viele Abbrecher/innen wie auf Basis des LFS: 15,5 %

(11)

5

Bildungsabbruch Kapitel 5

sinnvoller erscheint – sinkt der Anteil der frühen Abbrecher/innen auf 13 % (2011: 12,6 %) während die Gesamtanzahl auf 131.000 ansteigt.9 Um nun eine begriffliche Unterscheidung in Abhängigkeit von der Datenbasis, die für die Berechnung herangezogen worden ist, tref- fen zu können, wird bei der Berechnung von frühen Abbrecherinnen und Abbrechern auf Basis des BibEr von „Frühen (Aus-)Bildungsabbrecherinnen und -abbrechern“ (FABA) ge- sprochen. Der Terminus der „Early School Leavers“ (ESL) bleibt demgegenüber den Be- rechnungsergebnissen auf Basis des LFS vorbehalten.10 Demnach liegt eine zu den Arbeits- losenquoten vergleichbare Situation vor, wo auch zwischen nationalen und internationalen Berechnungen unterschieden wird.

Dieses neuere Berechnungsergebnis zum Ausmaß bedeutet, dass es in Österreich ganz im Gegensatz zur eigentlich niedrigen ESL-Quote auch ein quantitatives Problem in Bezug auf Bildungsarmut unter Jugendlichen gibt, das entsprechender politischer Aufmerksamkeit be- darf. Dieses hohe Problemausmaß hat sich schon lange Zeit immer wieder in den Ergeb- nissen der PISA-Kompetenzmessungen abgezeichnet, wo regelmäßig unter dem Begriff der PISA-Risikogruppen rund 20 % der 15-Jährigen ausgewiesen wurden, die nicht sinnerfas- send lesen können (OECD, 2013). Auch die Überprüfung der Bildungsstandards (BIST-Ü) in Mathematik bestätigt die substanziellen Lücken in den Grundkompetenzen am Ende der Pflichtschulzeit. Jede sechste Schülerin/jeder sechste Schüler verfügt kaum über die Fähigkei- ten, Fertigkeiten und Haltungen, die in Österreich als zentral für die weitere schulische und berufliche Bildung bewertet werden (Schreiner & Breit, 2012).

Ein großer Vorteil der neuen Datenbasis ist ihr Charakter als Vollerhebung, wodurch Analy- sen auf wesentlich tieferer Aggregationsebene durchgeführt werden können. Derart wird es möglich, erstmals für Österreich Anteile früher Bildungsabbrecher/innen auch auf der Ebene politischer Bezirke zu berechnen. Dabei zeigt sich in Abbildung 5.2 eine enorme Spanne von 5,7 % FABA unter den 15- bis 24-Jährigen im Jahr 2010 in Zwettl (Niederösterreich) bis hin zu 25,9 % in Wien-Brigittenau. Aus dieser regionalen Verteilung wird auch deutlich, dass früher Bildungsabbruch ein städtisches Phänomen ist, das sich nicht alleine auf die Bundeshauptstadt konzentriert. Auch Städte wie Wels (21,3 %), Wiener Neustadt (19,4 %), Salzburg (17,7 %) und Dornbirn (16,8 %) weisen stark überdurchschnittliche Werte auf und bilden in den jeweiligen Bundesländern Ausreißer in Relation zu den eher ländlichen Gebieten. Eine deutliche Ausnahme zu dieser Regel bildet die Stadt Graz, die mit einem FABA-Anteil von 12 % sogar unter dem österreichischen Durchschnitt liegt. Den auf ein gesamtes Bundesland bezogenen niedrigsten Wert erreicht das Burgenland mit 8,9 %, gefolgt von der Steiermark mit 9,9 %. Am anderen Ende der Skala befinden sich Vorarlberg mit 13,6 % bzw. Wien mit 20 %.

Die Unterschiede nach Geschlecht fallen zuungunsten der jungen Männer aus, sind aber relativ gering. Die Bandbreite reicht hier von einer Geschlechterdifferenz, was den FABA-An- teil betrifft, von 0,1 Prozentpunkten im Burgenland bis hin zu 2,7 Prozentpunkten in Wien, während die bundesweite Differenz bei 1,5 Prozentpunkten liegt.11

9 Die Anzahl von 131.000 Betroffenen bezieht sich auf die Gesamtgruppe der in diesem Jahr 15- bis 24-Jährigen und umfasst demzufolge 10 Geburtsjahreskohorten. Der „Beitrag“ der einzelnen Geburtsjahreskohorten ist dabei kein gleicher, sondern das Problemausmaß steigt mit zunehmendem Alter. Liegt der Anteil der frühen (Aus-)Bildungsabbrecherinnen und -abbrecher (FABA) unter den 15-Jährigen noch bei 6 %, erreicht er bei den 24-Jährigen einen Anteil von 16 %. Demnach variiert auch die Anzahl betroffener Personen in einer Geburts- kohorte zwischen rund 5.000 und 15.000.

10 In den nachfolgenden Analysen werden nun immer – soweit dies möglich ist – FABAs, die auf Basis des BibEr berechnet wurden, zugrunde gelegt, weil es sich dabei um eine verlässlichere Vollerhebung auf Basis von Ver- waltungsdaten handelt. Zudem wird immer auf die Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen Bezug genommen.

11 Hier stehen die Geschlechterunterschiede auf Basis der BibEr-Daten zur Diskussion. In Abschnitt 2 waren es die LFS-Daten.

Analysen auf tieferer Aggregationsebene zeigen große Spanne zwischen Bezirken

Unterschiede nach Geschlecht relativ gering

(12)

5

Abb. 5.2: FABA-Anteil der 15- bis 24-Jährigen nach politischen Bezirken (2010)

Anmerkung: FABA: frühe (Aus­)Bildungsabbrecher/innen.

Quellen: Statistik Austria (BibEr, Registerzählung). Eigene Berechnungen.

0 10 20 30

0 10 20 30

Burgenland Wien

Waidhofen a. d. Ybbs (Stadt) Scheibbs Krems (Land) Waidhofen a. d. Thaya Horn Amstetten Korneuburg Melk Gmünd Mistelbach St. Pölten (Land) Tulln Hollabrunn Mödling Wien-Umgebung Lilienfeld Bruck a. d. Leitha Krems (Stadt)

Zwettl Gänserndorf Wr. Neustadt (Land) Neunkirchen Baden St. Pölten (Stadt) Wr. Neustadt (Stadt) Tamsweg Salzburg-Umgebung Zell am See St. Johann i. Pongau Hallein Salzburg (Stadt)

Niederösterreich Salzburg

Oberpullendorf Oberwart Neusiedl am See Güssing Jennersdorf Mattersburg Eisenstadt (Stadt) Josefstadt Hietzing Alsergrund Neubau Wieden Döbling Währing Mariahilf Innere Stadt Liesing Donaustadt Penzing Landstraße Floridsdorf Hernals Margareten Meidling Simmering Leopoldstadt Ottakring Favoriten Brigittenau

0 10 20

30 Oberösterreich Tirol

Urfahr-Umgebung Freistadt Rohrbach Steyr-Land Perg Grieskirchen Gmunden Ried i. Innkreis Eferding Vöcklabruck Wels-Land Kirchdorf a. d. Krems Schärding Linz-Land Braunau Steyr (Stadt) Linz (Stadt) Wels (Stadt) Kitzbühel Landeck Imst Innsbruck-Land Schwaz Kufstein Reutte Innsbruck (Stadt)

Lienz

0 10 20 30

Wolfsberg Spittal a. d. Drau Villach-Land Klagenfurt-Land Völkermarkt Feldkirchen St. Veit a. d. Glan Villach (Stadt) Klagenfurt (Stadt) Weiz Hartberg Murau Mürzzuschlag Radkersburg Graz-Umgebung Feldbach Deutschlandsberg Fürstenfeld

Hermagor Voitsberg Leoben Liezen Judenburg Bruck a. d. Mur Leibnitz Knittelfeld Graz (Stadt) Bludenz Feldkirch Bregenz Dornbirn

Steiermark Vorarlberg

Kärnten

Eisenstadt-Umgebung Rudolfsheim-Fünfhaus

Abb. 5.2: FABA-Anteil 15- bis 24-Jähriger nach politischen Bezirken in Österreich (2010)

Quelle: Statistik Austria, BibEr und Register. Eigene Berechnungen.

FABA-Anteil der 15- bis 24-Jährigen (in %)

(13)

5

Bildungsabbruch Kapitel 5

Wesentlich deutlicher als nach Geschlecht fallen die Unterschiede beim frühen Bildungsab- bruch differenziert nach Migrationshintergrund aus. Auch hier erlaubt es die neue Daten- basis des BibEr, die Betroffenheitsanalysen nach Herkunft erstmals bundesländerspezifisch vorzunehmen.12

Betrachtet man die Ergebnisse in Abbildung 5.3, dann wird zunächst deutlich, dass Jugend- liche mit Migrationshintergrund (30,2 %) bundesweit einen dreimal so hohen Anteil von frühem Bildungsabbruch aufweisen wie jene mit Geburtsland Österreich (9,7 %). Dabei fal- len die großen Unterschiede im Ausmaß des frühen Bildungsabbruchs unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Abhängigkeit von den Bundesländern auf. Die Spanne reicht hier von 26,5 % im Burgenland bis hin zu 35,4 % in Oberösterreich, wobei Wien, was Mi- grantinnen und Migranten betrifft, mit 29,3 % sogar unter dem Durchschnitt liegt. Auch bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund schwanken die FABA-Anteile zwischen 7 % im Burgenland und 15 % in Wien, wobei der hohe Wert für Wien mit der Operationalisie- rung des Migrationshintergrunds auf Basis des Geburtslandes zusammenhängt13 und nicht gleichbedeutend damit ist, dass in der Bundeshauptstadt der Anteil früher Abbrecher/innen unter den Österreicherinnen und Österreichern außerordentlich erhöht wäre. Vielmehr führt in Wien der Einfluss der hier stark vertretenen zweiten Generation zu diesem erhöhten Wert, wodurch der Schluss nahe liegt, dass zwischen den Bundesländern die FABA-Anteile in der autochthonen Bevölkerung wesentlich weniger schwanken als unter jenen mit Migrations- hintergrund.

Abb. 5.3: FABA-Anteil der 15- bis 24-Jährigen nach Bundesländern und Geburtsland (2011)

Anmerkung: FABA: Frühe (Aus­)Bildungsabbrecher/innen.

Quellen: Statistik Austria (BibEr, Registerzählung). Eigene Berechnungen.

Dieses Ergebnis zeigt auf, dass ein und dasselbe Bildungssystem in unterschiedlichen Bundes- ländern zu unterschiedlich sozial-selektiven Ergebnissen führt. Diese Unterschiede sind u. a.

auf eine unterschiedlich selektive Praxis innerhalb der Systemstrukturen zurückzuführen, was auch bei einem anderen Indikator in diesem Zusammenhang deutlich wird: So kann nachge- wiesen werden, dass das Ausmaß der Überrepräsentation von Migrantinnen und Migranten

12 Den datentechnischen Gegebenheiten geschuldet ist es hier nur möglich, den Migrationshintergrund mit dem Geburtsland zu operationalisieren. Dadurch kann zwischen erster und zweiter Generation nicht unterschieden werden bzw. werden Migrantinnen und Migranten zweiter Generation der Gruppe mit Geburtsland Österreich hinzugerechnet.

13 Die Operationalisierung von Migrationshintergrund nach Geburtsland führt dazu, dass alle Angehörigen der zweiten Generation zur Gruppe ohne Migrationshintergrund gerechnet werden. Migrantinnen und Migranten zweiter Generation weisen jedoch ein erhöhtes frühes Abbruchsrisiko auf (siehe Abschnitt 4), was allgemein zu einer Erhöhung der frühen Abbruchsanteile unter den „Österreicherinnen und Österreichern“ führt. Die zweite Generation ist jedoch am stärksten in Wien beheimatet und trägt zum außerordentlich hohen FABA-Anteil unter den Jugendlichen mit Geburtsland Österreich in Wien bei.

Jugendliche mit Migrationshintergrund:

dreimal so hoher Anteil an frühem Bildungsabbruch wie jene mit Geburtsland Österreich

0

Geburtsland: nicht Österreich Geburtsland: Österreich

5 10 15 20 25 30 35 40

FABA-Anteil der 15- bis 24-Jährigen (in %)

Ktn. Bgld. Sbg. Tir. Stmk. Wien Ö Vbg.

Abb. 5.3: 15- bis 24-Jährige FABA nach Bundesländern und Geburtsland (2011)

Quelle: Statistik Austria — BibEr & Register. Berechnung: IHS.

Identisches Bildungs- system in unterschiedlichen Bundesländern – unter- schiedlich sozial-selektive Ergebnisse

(14)

5

in Sonderschulen zwischen den Bundesländern erheblich, d. h. zwischen 120 % und 190 %, schwankt (Steiner, 2013; Titelbach, Davoine, Hofer, Schuster & Steiner, 2013).14

Wenn nun aber eine unterschiedlich stark exekutierte Selektivität die Erklärung für diese regionalen Unterschiede bildet, wirft das schwerwiegende Fragen hinsichtlich der Gestaltung von Bildungspolitik auf. Denn offensichtlich ist es – dieser Ergebnisse eingedenk – nicht aus- reichend, (formale) Bildungsstrukturen zu verändern, wenn der sozialen Selektivität begegnet werden soll, sondern mindestens ebenso relevant ist es, die Verbindlichkeit von Regelungen zu erhöhen sowie das Bewusstsein und Handeln von Lehrerinnen/Lehrern und Schulleite- rinnen/Schulleitern mitzuberücksichtigen.

Aus Abbildung 5.4 wird ersichtlich, dass es 6,8 % der Pflichtschulabsolventinnen und -ab- solventen sind, die die erste (legale) Möglichkeit nutzen, nach 9 Jahren Pflichtschule das Bildungssystem zu verlassen. Werden die Schulformen auf der Sekundarstufe II betrachtet, dann sind es 6,5 % der Schüler/innen einer berufsbildenden höheren Schule (BHS) eines Eintrittsjahrgangs, die innerhalb eines Beobachtungszeitraums von 6 Jahren nicht nur die BHS abbrechen, sondern auch in keine andere Schulform wechseln, also ihre gesamte Bil- dungslaufbahn beenden. Dieser Anteil beträgt bei den allgemeinbildenden höheren Schulen (AHS) 8,6 % und bei den berufsbildenden mittleren Schulen (BMS) 13,8 %. Was Vollzeit- schulen betrifft, können demnach die BMS (und hierin insbesondere die Handelsschulen mit einem FABA-Anteil von 21,7 %) als primärer Ansatzpunkt für Reformmaßnahmen15 ausgemacht werden. Auch wenn letztlich die absolute Anzahl von FABA zwischen BMS und BHS aufgrund der unterschiedlich großen Kohortenanteile, die sie auf sich vereinen, gleich sein mag, zeugt eine doppelte (im Fall der Handelsschulen bis dreifache) FABA-Quote doch von einer eigenen Dimension der Problematik.

Neben dem BibEr erlaubt auch das Qualitätsmanagement Lehre interessante neue Erkennt- nisse, was den frühen Bildungsabbruch betrifft. Dadurch wird es nun erstmals möglich, unter Einbeziehung des dualen Systems verschiedene Schulformen einander vergleichend gegen- überzustellen, wenn es um die Frage geht, welche Anteile ihrer Schüler/innen im Laufe der Zeit zu FABAs werden bzw. wo die (hauptsächliche) Quelle des frühen Abbruchs liegt.

Einen FABA-Anteil von 21 % hat die Lehre (betriebliche Form) aufzuweisen. Dieser Wert berechnet sich, wenn man die eigentlichen frühen Abbrecher/innen (12,5 %) und jene Lehr- absolventinnen und -absolventen addiert, die keine erfolgreiche Lehrabschlussprüfung (LAP) ablegen (8,5 %).16 Die Addition von Abbruch und fehlender LAP zur Berechnung des FABA- Anteils im dualen System ist gerechtfertigt, weil auch die Berechnung der vollzeitschulischen Quote den Abschluss mitberücksichtigt. Darüber hinaus weisen Lehrabsolventinnen und -absolventen ohne LAP als höchsten Abschluss nur die Pflichtschule auf, womit das Defi- nitionskriterium des frühen Abbruchs erfüllt ist, obwohl durch die Absolvierung der Lehre unzweifelhaft auch ohne Abschlussprüfung viele Kompetenzen erworben wurden.

Demnach kann auch die betriebliche Lehre als Ausbildungsform ausgemacht werden, die verstärkter bildungspolitischer Aufmerksamkeit bedarf, wenn dem Ausmaß des frühen Bil- dungsabbruchs wirksam begegnet werden soll. Auffällig dabei ist v. a. der hohe Anteil an Lehrabsolventinnen und -absolventen, die nach mehrjähriger Ausbildungszeit die LAP nicht erfolgreich ablegen können, weshalb Reformbemühungen, die hierbei ansetzen, ein potenziell hohes Effektpotenzial zukommt.

14 Wenn man sich vor Augen führt, dass der Sonderschulbesuch nur in den wenigsten Fällen zu Bildungszertifi- katen führt, die die Fortführung der Bildungslaufbahn überhaupt erst ermöglichen, kann darin eine Erklärung für die stark erhöhte Betroffenheit von Migrantinnen und Migranten, was frühen Bildungsabbruch betrifft, ge- funden werden. Auf Basis dieser empirischen Ergebnisse muss letztlich die Frage nach Strukturen und Praktiken systematischer Ausgrenzung aufgeworfen werden.

15 Die „Praxishandelsschulen“ können hier als Beispiel genannt werden.

16 Vgl. Anmerkungen zu Abbildung 5.4.

Schwerwiegende Fragen hinsichtlich der Gestaltung von Bildungspolitik

Lehre (betriebliche Form) weist FABA-Anteil von 21 % auf

Betriebliche Lehre bedarf verstärkter bildungs- politischer Aufmerksamkeit

(15)

5

Bildungsabbruch Kapitel 5

Abb. 5.4: Zeitpunkt und Quelle des Abbruchs der Bildungslaufbahn in Schulausbildungen (2012)

Anmerkungen: Einschränkend sei erwähnt, dass bei den Lehrabbrecherinnen und Lehrabbrechern nicht kontrolliert werden kann, ob sie in Vollzeitschulen wechseln. Die großen empirischen Ströme verlaufen jedoch umgekehrt, von der berufsbildenden mittleren und höheren Schule (BMHS) in das duale System (Lassnigg, 2011). Daher erscheint die These plausibel, dass diese Datenunzulänglichkeit ohne große Auswirkungen auf den ausgewiesenen FABA­Anteil bleibt. FABA: Frühe (Aus­)Bildungsabbrecher/innen;

AHS: allgemeinbildende höhere Schule; BHS: berufsbildende höhere Schule; BMS: berufsbildende mitt­

lere Schule; PS: Pflichtschule. *Anteil Abbrecher/innen: 12,5 %, Anteil ohne (erfolgreiche) Lehrabschluss­

prüfung: 8,4 %.

Quellen: Statistik Austria (Schulstatistik 2012/13), WKO (Qualitätsmanagement Lehre 2012).

Darüber hinaus sind jedoch auch Ansatzpunkte in der Sekundarstufe I festzumachen, denn die aus der unteren Sekundarstufe mitgebrachten Kompetenzen verteilen sich nicht gleich auf die Schulformen der Sekundarstufe II. Die Schulformen der Sekundarstufe II stehen also vor unterschiedlich großen Herausforderungen, die z. T. auch in der Sekundarstufe I zu suchen sind und ihren Anteil frühen Bildungsabbruchs beeinflussen (Bruneforth & Itzlin- ger-Bruneforth, 2015).

Die Kernerkenntnisse dieses Abschnitts liegen zusammenfassend im (verglichen zu bishe- rigen Berechnungen) erhöhten Problemausmaß, in der starken regionalen Streuung mit be- sonderer Betonung urbaner Räume, in der starken (jedoch regional unterschiedlich akzen- tuiert ausgeprägten) Benachteiligung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund sowie in der Erkenntnis einer Konzentration von frühem Abbruch in BMS und dem dualen System.

3.2 Schulstandortbezogene Analysen des frühen Abbruchs

Die dritte neue Datenbasis, die deutlich differenziertere Einblicke in das Ausmaß des frühen Bildungsabbruchs in Österreich ermöglicht, sind Statistiken zu Bildungsverläufen. Das Bil- dungsdokumentationsgesetz (BilDokG) weitete die Schulstatistik in Österreich deutlich aus und erlaubt, den Bildungsverlauf Jugendlicher zu verfolgen. Eine verlässliche Verlaufsstatistik liegt für die Schuljahre seit 2006/07 vor. Allerdings liegt es in der Natur der Daten, dass Bildungsabbrecher/innen nur indirekt dadurch identifiziert werden, dass sie keine weitere Schule besuchen bzw. nicht mehr gemeldet werden und kein Sekundarstufe-II-Abschluss dokumentiert ist.

Leider steht der Datensatz aufgrund strenger Datenschutzvorschriften der Forschung nicht in geeigneter Weise zur Verfügung und kann gegenwärtig nur von wenigen Institutionen ausge- wertet werden. Auch das BMBF selbst kann Übergänge von Schülerinnen und Schülern von

0

nach PS aus BHS aus AHS aus BMS

gesamt aus Lehre

(betriebl.)*

5 10 15 20 25

FABA-Anteil (in %)

Abb. 5.4: Zeitpunkt/Quelle des Abbruchs der Bildungslaufbahn in Schulausbildungen (2012)

Quelle: Statistik Austria — Schulstatistik 2012/13 & WKÖ-QML 2012. Berechnungen: IHS.

Statistiken zu Bildungs- verläufen durch Ausweitung der Schulstatistik als neue Datenbasis

Besseres Verständnis für Prävention durch bessere Datenverfügbarkeit

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