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2. Die Entscheidungsbasis: Haftgründe, faktische Beweggründe und

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Vergleichender Abschlussbericht

Walter Hammerschick, Christine Morgenstern, Skirmantas Bikelis, Miranda Boone, Ioan Durnescu, Alexia Jonckheere, Joep Lindeman, Eric Maes, Mary Rogan

Wien, Dezember 2017

(2)

Inhaltsübersicht

1. Einleitung 3

1.1. Hintergrund des Projekts und Forschungsfragen 3

1.2. Wichtigste Konzepte und Terminologie 6

U-Haft 6

Ultima Ratio 6

Alternativen zu U-Haft/Sicherheitsleistung 7 Ausländer (ausländische Staatsangehörige) 8 1.3. Raten Untersuchungsgefangener als Ausgangspunkt einer komparativen Studie

9

1.4. Die Bedeutung von rechtlich-sozialen und kulturellen Kontexten 10 1.5. Durchführung der Studie – Bemerkungen zur Methodik 11

2. Die Entscheidungsbasis: Haftgründe, faktische Beweggründe und

maßgebliche Faktoren 14

2.1. Einleitung 14

2.2. Die gesetzlich definierten U-Haftgründe in der Praxis 15

2.2.1. Fluchtgefahr und präventive Haftgründe 15

2.2.2. Die Schwere der Straftat und U-Haft Entscheidungen 19

2.3. Zur Untermauerung der Begründungen 21

2.3.1. Zeitdruck und persönliche und soziale Informationen zu den Verdächtigen 21

2.3.2. Entscheidungsfindung und Ermessen 22

2.4. Versteckte und außer-rechtliche Gründe für U-Haft und Motive 24 2.4.1. Verfahrensökonomie, ausländische Staatsangehörige und

Generalprävention 24

2.4.2. Punitive Motive bzw. Vorwegnahme von Strafmotiven 26 2.4.3. Öffentliche Wahrnehmung und Diskussionen - ihr Einfluss auf

Entscheidungsträger 27

3. Die Rolle der Akteure 28

3.1. Einleitung 28

3.2. Staatsanwaltschaft 28

3.3. Verteidigung 32

3.4. Die Rolle der RichterInnen im Entscheidungsfindungsprozess 36

3.5. Die Medien 38

3.6. Die Rolle der Bewährungshilfe 39

(3)

4. Untersuchungshaft: haben wir andere, glaubwürdige Lösungen?

Dilemmas bei Alternativen 42

4.1. Einleitung 42

4.2. Richterliche Aufsicht mit Bedingungen 43

4.3. Finanzielle Sicherheitsleistung (Bail – Kaution) 48

4.4. Hausarrest und elektronische Fußfessel 49

5. Verfahrensaspekte und Haftkontrolle 54

5.1. Eingangsbemerkungen 54

5.2. Entscheidungsfindung 57

5.2.1. Zeitliche Aspekte 57

5.2.2. Anhörung der Beschuldigten 57

5.2.3. Beweisbeschaffung und persönliche Informationen 59

5.2.4. Akten 59

5.3. Kontrolle der Haftentscheidungen 61

5.3.1. Hafprüfungen 61

5.3.2. Beschwerden und andere (außerordentliche) gerichtliche Behelfe 62

6. Europäische Aspekte 64

6.1. Der Europarat 64

6.1.1. Die Europäische Konvention und die Rechtsprechung des Europäischen

Gerichtshofs für Menschenrechte 64

6.1.2. Empfehlungen des Europarats 65

6.1.3. Europäisches Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder

erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) 66

6.2. Die Europäische Union 67

6.2.1. Einleitung 67

6.2.2. Die Rahmenbeschlüsse 69

6.2.3. Die Anwendung der Rahmenbeschlüsse in unserer Studie 71

7. Schlussfolgerungen 75

7.1. Die Durchführung vergleichender Forschung zu Untersuchungshaft und

Kaution (Bail) 75

7.2. Gründe und Motive in den Untersuchungshaftentscheidungen 76

7.3. Akteure und Rollen 78

7.4. Alternativen zu Untersuchungshaft und gelindere Mittel 80 7.5. Verfahrensrechtliche Aspekte und Haftkontrolle 80

7.6. Ergebnisse zur Vignette 83

7.7. Europäische Aspekte 85

(4)

1. Einleitung

1.1. Hintergrund des Projekts und Forschungsfragen

Jede/r hat das Recht auf Freiheit und persönliche Sicherheit, und für jede/n der/die einer Straftat beschuldigt ist gilt laut Gesetz die Unschuldsvermutung bis das Gegenteil bewie- sen ist. Wenn eine Person einer Straftat beschuldigt ist, hat der Staat das Recht und die Pflicht diesen Fall zu untersuchen und die strafrechtliche Verfolgung einzuleiten. Das Recht auf Freiheit und die Unschuldsvermutung, niedergelegt in Art. 5 und Art. 6 (2) der Europäischen Menschenrechtskonventionen (und nationalen verfassungsrechtlichen und rechtlichen Bestimmungen), garantieren jedoch, dass der Verdacht an sich noch nicht zu einer Einschränkung der Rechte führen darf: Die Regeloption während eines strafrecht- lichen Verfahrens ist deshalb die, die beschuldigte Person während des Verfahrens bis hin zur Verurteilung in Freiheit zu belassen. Nur die ausreichend begründete Annahme, dass die Person nicht am Prozess teil-

nehmen wird bzw. weitere Straftaten durch sie zu befürchten sind, begründet die Möglichkeit, Zwangsmaßnahmen zu ergreifen, um den Strafprozess zu si- chern. Nichtsdestotrotz, weder der Ver- dacht noch Fakten die zur Annahme führen, das eine Person nicht am Pro- zess teilnehmen wird, machen die Un- schuldsvermutung zunichte bzw. die

Person „ein wenig schuldig“; jede staatliche Intervention in dieser Phase muss klar ge- rechtfertigt sein. Selbst wenn Zwangsmaßnahmen eingesetzt werden müssen, muss der Staat die am wenigsten eingriffsintensive Maßnahme wählen, um sowohl die größtmögli- che Freiheit als auch die Durchführung des Verfahrens zu gewährleisten, weshalb die zweite Option für eine/n Beschuldigten/n die Freiheitseinschränkung ist. Ein Fokus unserer Forschung liegt daher bei jenen Freiheitseinschränkungen, die oft als “Alternati- ven zur Untersuchungshaft“ bezeichnet werden oder die in das Konzept der (bedingten) Kaution (Bail) eingebunden werden. Nur wenn der Staat (und damit die Exekutivorgane) beweisen kann, dass keine andere Maßnahme die Teilnahme des/der Beschuldigten am Prozess sichern bzw. weitere Straftaten verhindern kann, kann die eingriffsintensivste Maßnahme gerechtfertigt sein: Untersuchungshaft (in der Folge U-Haft). Diese Argu- mente bilden den Ausganspunkt unser Arbeit, die Anforderung U-Haft nur als Ul- tima Ratio, als letzte Option oder Ultimum Remedium zu sehen (die drei Ausdrücke werden hier gleichbedeutend verwendet).

(5)

Hinzu kommt, dass Untersuchungsgefangene häufig unter schlechteren Haftbedin- gungen als verurteilte Häftlinge leiden, wie z.B. das European Committee for the Pre- vention of Torture mehrfach festgestellt und als ein pan-europäisches Problem deklariert hat.1 Die Haftbedingungen sind in manchen Ländern so schlecht, dass Art. 3, niemand sollte Folter oder inhumanen, herabwürdigenden Bedingungen oder Strafen ausgesetzt sein, verletzt wird.2

Schließlich kann das Ergebnis – U-Haft oder andere Maßnahmen zur Sicherung des Ver- fahrens – nur gerechtfertigt sein, wenn das Verfahren fair war. Die Bedingung eines fai- ren Verfahrens beinhaltet die Unabhängigkeit und Unbefangenheit der Entschei- dungsträger, ein rasches Verfahren, Verteidigungsrechte und das Recht zu Information und Übersetzung. Die rechtlichen Bedingungen sind in Art. 6 (1) EMRK festgehalten und korrespondieren mit dem menschlichen Bedürfnis, Vorgänge zu verstehen und seine ei- gene Position (“Stimme”) vertreten zu können, und mit Respekt und nicht als bloßes Ob- jekt einer staatlichen Ermittlung oder Intervention behandelt zu werden. Ein unfairer Prozess birgt auch ein Risiko für die Legitimation des strafrechtlichen Verfahrens an sich.

Eine Besonderheit der U-Haft in vielen europäischen Rechtssystemen machte einen Ver- gleich besonders plausibel; die Anzahl ausländischer Beschuldigter in U-Haft.

2015/2016 war der Prozentsatz in Österreich und Belgien besonders hoch (mehr als 50%), wohingegen der Anteil in Litauen (7%) und Rumänien (8,6%) niedrig war.3 Staatsbürge- rInnen dieser Länder finden sich jedoch in U-Haft in anderen EU-Ländern. Deshalb sind Kooperationstools innerhalb der EU, wie die Europäische Überwachungsanordnung (Eu- ropean Supervision Order - ESO), von besonderem Interesse. Dieses Instrument könnte dabei helfen U-Haft zu vermeiden, weil es eine nicht freiheitsentziehende Überwachung von Tatverdächtigen in deren Heimatland ermöglicht, die in einem anderen EU-Mit- gliedsstaat gerichtlich verfolgt werden. Die Anwendung solcher Instrumente setzt jedoch Wissen über die Praxis in den verschiedenen Ländern voraus, sowie Vertrauen, dass es ein grundlegendes gemeinsames Verständnis des Gegenstands gibt.

1 European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CPT) (2017): Remand detention. Extract from the 26th General Report of the CPT, CPT/Inf(2017)5-part; https://www.coe.int/en/web/cpt/standards (zuletzt aufgerufen am 25. Januar 2018).

2 CPT, siehe Fußnote 1; mehrere Entscheidungen des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sowie eine wesentliche Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) beziehen sich auf dieses Problem, siehe Kapitel 6.1. dieses Berichts.

3 Siehe 1. National Reports mit Daten aus unterschiedlichen Quellen und Daten der Strafvollzugsstatistik des Europarats (SPACE I), (http://wp.unil.ch/space/files/2017/04/

SPACE_I_2015_FinalReport_161215_REV170425.pdf, zuletzt aufgerufen am 19. Januar 2018).

(6)

Mit dem oben beschriebenen, gemeinsamen normativen Ausgangspunkt könnte man an- nehmen, dass die U-Haft-Zahlen eines Landes so klein wie möglich sein sollten. Das Ziel unserer Forschung ist deshalb zu verstehen, welche Faktoren den Einsatz von U-Haft prä- gen, wie U-Haft in der Praxis begründet wird und ob diese Begründungen in Hinblick auf die beschriebenen, zwei grundlegenden menschenrechtlichen Garantien überzeugend sind. Die Studie wurde in sieben Ländern durchgeführt: Österreich (AT), Belgien (BE, hier wurden der flämische und der französischsprachige Teil des Lan- des getrennt betrachtet), Deutschland (DE), Irland (IR), Litauen (LT), Nie- derlande (NL) und Rumänien (RO).

Ausgehend von einem vergleichenden und europäischen Standpunkt wollten wir verste- hen, inwieweit der vergleichbare normative Ansatz als eine Erklärung für vergleichbare Praktiken dienen kann, bzw. wie Unterschiede zu erklären sind. Dies resultierte in unserer primären Forschungsfrage “Ist die U-Haft in der Praxis der teilnehmenden Län- der eine Ultima Ratio” und einer Reihe weiterer, spezifischerer, sekundärer For- schungsfragen:

 Wie extensiv wird die U-Haft angewendet?

 Welche Entwicklungen können in der Praxis der U-Haft und ihren Alternativen be- obachtet werden, welche Faktoren erscheinen hier relevant?

 Welche Faktoren beeinflussen die Haftentscheidungen?

 Wer ist an diesen Entscheidungen beteiligt und was sind ihre Rollen?

 Sind Alternativen zu U-Haft vorhanden und werden sie genutzt? Was sind potenti- elle Hindernisse?

 Wenn Alternativen eingesetzt werden, gibt es Anzeichen eines Net-widening Ef- fekts?

 Gibt es Gruppen die unterschiedlich behandelt werden und wenn ja, welche und in welcher Hinsicht?

 Inwiefern spielen europäische Aspekte eine Rolle in der U-Haftpraxis und könnten Kooperationen innerhalb Europas oder international dabei helfen U-Haft zu vermei- den?

Die Ergebnisse unserer Studie sind nicht nur für den akademischen Diskurs relevant, son- dern besonders auch für Praxis und Kriminalpolitik auf nationaler wie europäischer Ebene. Die Praxis – RichterInnen, Rechtsanwälte, StaatsanwältInnen, aber auch in der Polizei, in Strafrechts-, Sozial- und verwandten Bereichen – sollten von unseren Erkennt- nissen profitieren, weil sie zeigen, dass viele Probleme verschiedene Rechtssysteme gleichermaßen betreffen, anderswo manchmal aber konstruktive Optionen gefunden wur- den, die als sinnvolle Beispiele auf nationaler Ebene dienen können.

(7)

1.2. Wichtigste Konzepte und Terminologie

Eine der Bemühungen und Absichten komparativer Studien ist es, einander zu verstehen und eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Dieses Ziel ist im Bereich des Strafrechts besonders schwer umzusetzen. Selbst innerhalb einer Sprache haben verschiedene Ter- mini unterschiedliche Entsprechungen, die synonym verwendet werden, mitunter jedoch eine leicht andere Bedeutung haben. 4Manchmal haben idente Begriffe oder wortwörtli- che Übersetzungen eine komplett andere Bedeutung in einer anderen Sprache (z.B. Be- währung oder Rehabilitierung).5 Da manche der beteiligten ForscherInnen bereits seit ei- niger Zeit im Bereich der komparativen Forschung arbeiten, entwickelten sie eine gewisse Sensibilität für diese Missverständnisse, was half solche zu erkennen und zu vermeiden.

In diesem Abschnitt werden wir einige der wichtigsten Konzepte unserer Forschung er- klären und definieren, wie sie in diesem Bericht vorkommen. Die Bedeutung dieser und anderer Konzepte in den unterschiedlichen Rechtssystemen ist darüber hinaus in den na- tionalen Berichten beschrieben.6

U-Haft

Wir verwenden den Begriff der “U-Haft” als einen Weg die unterschiedlichen nationalen Begriffe zu vereinen (z.B. „Untersuchungshaft“ in Deutschland und Österreich, „vorläu- fige Haft“ in den Niederlanden). Die Zeit der Haft umfasst nicht nur die Zeit vor dem Pro- zess, sondern auch die Prozesszeit und auch die Zeit nach einer Verurteilung, soweit Rechtsmittel erhoben werden. Die Begriffe “Untersuchungshaft” oder “Präventivhaft“

(Rumänien) werden manchmal synonym verwendet. Normalerweise wird die Dauer des ersten Arrests durch die Polizei nicht als U-Haft betrachtet (anders ist dies z.B. bei der Frage der Anrechnung der Haftzeit bei einer Verurteilung).

Ultima Ratio

Wie bereits oben erwähnt, ist das Ultima-Ratio-Konzept zentral für die vorliegende Studie. Da sich unsere primäre Forschungsfrage mit der Frage der U-Haft als Ultima Ra- tio beschäftigt, müssen wir eine klare Angabe machen, wann wir diese Voraussetzung als erfüllt ansehen und wann nicht. Wie bereits im ersten Abschnitt erwähnt, sollte eine U-

4 M. Boone and N. Maguire (2018), Introduction, in: The Enforcement of Offender Supervision in Europe, Understanding Breach Processes, Routledge, London: 5.

5 Brants, C. (2011) Comparing criminal process as part of legal culture, in: D. Nelken (ed), Comparative Criminal Justice and Globalisation, Fanham: Ashgate: 49–68.

6 Siehe Second National Reports auf der website des Projekts www.irks.at/detour/publications.html.

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Haft nur eingesetzt werden, wenn dies zum Erreichen der intendierten Ziele unbedingt notwendig ist. Deshalb ist das Ultima-Ratio-Prinzip eng mit den Zwecken der U-Haft ver- bunden: Fluchtgefahr verhindern; Rückfall bzw. neue Straftaten verhindern; Behinderun- gen der Ermittlungen verhindern; und, in manchen Ländern, die Störung der öffentlichen Ordnung verhindern.7 U-Haft ist nur in Einklang mit dem Ultima Ratio-Prinzip, wenn sie verhältnismäßig zu den Zielen ist. Es war von vornherein klar, dass wir keine eindimensi- onale Antwort zu unserer Forschungsfrage geben werden können. Eines der Probleme dieses Bereichs ist, dass die Zwecke sowie die Verhältnismäßigkeit von U-Haft veränder- liche Konzepte sind. Wir haben daher in den nationalen Berichten beschrieben, wie diese Konzepte in den verschiedenen Ländern von verschiedenen Beteiligten interpretiert wer- den, und wie diese Interpretationen erklärt werden können. Unsere Beurteilung, wie weit das Ultima-Ratio-Prinzip Berücksichtigung findet, basiert auf dem Ausmaß in dem unsere InterviewpartnerInnen auf Alternativen zur U-Haft eingegangen sind oder eben nicht.

Das Subsidiaritätsprinzip, sowie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, müssen hier trotz einer gewissen Überschneidung vom Ultima-Ratio-Prinzip unterschieden werden: Das Subsidiaritätsprinzip bezieht sich auf den Einsatz weniger schwerwiegender Maßnah- men: Diese müssen immer herangezogen werden, wenn sie demselben Zweck gleich gut dienen wie U-Haft. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bezieht sich auf alle Maß- nahmen: Solange der Zweck erfüllt wird, muss immer die am wenigsten eingriffsintensive Maßnahme, für die kürzest möglichste Zeit eingesetzt werden.

Alternativen zu U-Haft/Sicherheitsleistung

Das Konzept der “Alternativen” zur U-Haft war im vergleichenden Kontext schwierig zu erfassen. Es bezieht sich immer auf “mildere”, “weniger strenge” oder “gelindere Mittel”, um den Fortgang des Verfahrens und die Prävention von neuen Straftaten zu sichern. Dies beinhaltet auch Kontrolle und Überwachung (community supervision) im weitesten Sinne. Bezugnehmend auf eine von Morgenstern herausgearbeitete Differne- zierung,8 haben wir zwischen zwei Modellen unterschieden. Im Ersten (“Substitutions- modell”), können mildere Maßnahmen nur angeordnet werden, wenn die Haftschwelle erreicht ist, d.h. RichterInnen müssen einen Haftbefehl ausstellen, der dann unverzüglich

7 Obwohl die Zwecke der U-Haft – durch die Grundlage der EMRK – grundsätzlich vergleichbar sind, haben manche Länder (kürzlich) abweichende Ziele festgelegt, die es teils schwer machen das Ultima- Ratio-Prinzip zu erfüllen. Zum Beispiel das Ziel der beschleunigten Verfahren, das in den Niederlanden 2015 eingeführt wurde. Weitere Beispiele finden sich in den nationalen Berichten.

8 C. Morgenstern, Die Untersuchungshaft. Eine Untersuchung unter rechtsdogmatischen, kriminologischen, rechtsvergleichenden und europarechtlichen Aspekten. Baden-Baden, Nomos, 2018, 756 pp.

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oder kurz darauf bedingt außer Kraft gesetzt wird. Dieses Modell findet sich in Deutsch- land, den Niederlanden und Belgien.9 Im zweiten Modell, das man “Kautionsmodell” nen- nen könnte, werden Maßnahmen ohne Freiheitsentzug, relativ unabhängig von den Vo- raussetzungen für eine Haft, angeordnet; U-Haft ist hierbei nur eine Option von vielen.

Diese Maßnahmen sind daher streng gesehen keine Alternativen zur U-Haft (AT, IT, RO, LT). Trotz dieser theoretischen Unterscheidung dienen diese Modelle in der Praxis dem- selben Ziel und sind deshalb nicht unabhängig vom rechtlichen Rahmen der U-Haft; oft- mals ist die Maßnahme ohne Freiheitsentzug der Kompromiss zwischen Haft und unein- geschränkter Freiheit, ungeachtet des rechtlichen Rahmens (mehr dazu in Kapitel 4. 1.2).

“Kaution” (Bail) ist das Konzept das in Irland und Rumänien genutzt wird (der rumä- nische Begriff ist ‘control judiciar’ und ‘control judiciar pe cautiune’). Eine beschuldigte Person, die gegen Kaution freigelassen wird, ist eine Person, die nicht in U-Haft angehal- ten wird, während das Verfahren gegen sie läuft. „Bail“ kann (und wird für gewöhnlich) mit Auflagen und Bedingungen, auch finanzieller Art, verbunden. Obwohl es möglicher- weise einen psychologischen Effekt auf RichterInnen, die die Haftschwelle überwinden müssen, gibt, ist dies keine Garantie dafür, dass mildere Maßnahmen nicht als Kompro- miss angeordnet werden, auch nicht in den drei Ländern, die dem Substitutionsmodell entsprechen. In der Praxis spielt diese kategoriale Unterscheidung deshalb eine geringe Rolle.

Obwohl der Begriff “mildere Maßnahmen” neutraler wäre, wird “Alternativen” oft als Schlagwort verwendet, und wird daher auch in unserem Kontext akzeptiert. Wir möchten jedoch betonen, dass der Begriff „Alternativen“ eine Definition vermittelt, in der U-Haft die Norm ist. Diesem Verständnis muss entgegengewirkt werden.

Ausländer (ausländische Staatsangehörige)

Ein wichtiger Teil des DETOUR Projektes ist es, die Anzahl ausländischer Staatsangehö- riger in U-Haft zu erkunden, und letztendlich auch zu erklären. Auch dieser Begriff kann missverständlich sein. Im Kontext unseres Projekts bezeichnen wir einen Fremden auch als ausländischen Staatsangehörigen, also als Person, die kein Bürger (mit zugehörigen Legitimationspapieren) des Landes ist, in dem er/sie unter Verdacht steht. Dieses Kon- zept ist oft vermischt mit anderen Konzepten, zum Beispiel illegale Migranten oder Per-

9 In Belgien müssen für alle Maßnahmen, also Haft, für Electronic Monitoring und auch Alternativen die gleichen Voraussetzungen erfüllt sein.

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sonen einer ethnischen Minderheit. Ausländische Staatsangehörige sind eine besser um- rissene Kategorie als z.B. illegale Migranten und konnten deshalb auch statistisch vergli- chen werden. Die Kategorie umfasst sowohl Personen, die sich im Gastgeberland regulär oder auch irregulär aufhalten. Weil die Gründe für die Überrepräsentation dieser Grup- pen unterschiedlich sind, haben wir sie in den nationalen Berichten oft unterschieden.

Um alle diskriminierenden Praktiken einzufangen wäre es vermutlich besser gewe- sen, eine noch weiter gefasste Gruppe zu definieren, nämlich die der ethnischen Minder- heit (diese können natürlich auch Staatsangehörige ihres Wohnsitzlandes sein). Diese Ka- tegorie ist jedoch zu unbestimmt, um mit ihr in einem komparativen Kontext zu arbeiten.

1.3. Raten Untersuchungsgefangener als Ausgangspunkt einer kompa- rativen Studie

Ein Anlass für diese komparative Studie sind die unterschiedlichen U-Haftraten (Gefan- gene pro 100.000 der Bevölkerung) in den unterschiedlichen Rechtssystemen, wie sie jährlich beispielsweise durch den Europarat veröffentlicht werden. Diese Statistiken (SPACE I) zeigen bemerkenswerte Unterschiede zwischen den in dieser Studie be- teiligten Rechtsstaaten.10 Wie uns frühere komparative Forschung11 gelehrt hat, sind wir gut beraten, die Verlässlichkeit von Statistiken kritisch zu betrachten.12 Wir wissen, dass die Europaratsstatistik mit jenen Daten arbeitet, die auf der jeweiligen Zählung der ein- zelnen Mitgliedsstaaten basiert, d.h. die nationale Definition eines U-Gefangenen wird als solche anerkannt.13 Wie bereits erwähnt, können sich jedoch leichte Unterschiede zeigen, wer in einem Land als U-Gefangener gezählt wird und wer nicht.14 Grundsätzlich zählen die an dieser Studie beteiligten Staaten ihre U-Gefangenen jedoch auf eine ähnliche Weise: Alle Staaten betrachten Gefangene bis zum endgültigen Urteilsspruch als Unter- suchungsgefangene. Tatverdächtige, deren Untersuchungshaft aufgehoben wurde, oder

10 Siehe SPACE in Fußnote 3: Anteil per 100.000 EinwohnerInnen 2015: Österreich = 23,7 / Belgien = 28,3 / Deutschland = 13,2 / Irland = 12,5 / Litauen = 34,3 / Niederlande= 23,0 / Rumänien = 12,2 /.

11 F. Dünkel, T. Lappi-Seppälä, C. Morgenstern and D. van Zyl Smit D. (2010): Kriminalität, Kriminalpolitik, strafrechtliche Sanktionspraxis und Gefangenenraten im europäischen Vergleich.

Mönchengladbach: Forum; A. van Kalmthout, M. Knapen, C. Morgenstern (2009): U-Haft in Europe.

Nijmegen: Wolf.

12 M. Boone and N. Maguire (2018), Introduction, in: The Enforcement of Offender Supervision in Europe, Understanding Breach Processes, Routledge, London: p. 11.

13 Siehe Fußnote 3: SPACE unterscheidet auch zwischen bestimmten Gruppen, z.B. Personen in Erwartung eines Prozesses, in Erwartung einer Verurteilung, und in Erwartung eines Strafmaß (In Kontinentaleuropa werden Verurteilung und Strafmaß zur gleichen Zeit ausgesprochen) und Personen die Einspruch erheben bzw. erheben können.

14 Siehe z.B. die Kritik der holländischen “Chamber of Audits” hinsichtlich der Vergleichbarkeit der Länderdaten wie SPACE https://english.rekenkamer.nl/publications/reports/2017/11/14/pre-trial- detention-suspects-in-the-cells.

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die Maßnahmen ohne Freiheitsentzug verbüßen, werden nicht als Untersuchungsgefan- gene gezählt. Insofern können die Statistiken des Council of Europe über die Untersu- chungsgefangenenraten als weitgehend vergleichbar hinsichtlich der hier beteiligten Län- der bezeichnet werden.15

Andere Statistiken über Untersuchungsgefangene sind jedoch in einem komparativen Kontext weniger brauchbar oder schlichtweg nicht verfügbar. Die relative Zahl (Prozentsatz) der Untersuchungsgefangenen an der gesamten Haftpopulation gibt wenig Auskunft über gute oder schlechte Praktiken von U-Haft. Ein relativ kleiner Anteil von Untersuchungsgefangenen kann z.B. eine allgemeine Haftpopulation mit eher langen Haftstrafen reflektieren. Andererseits kann ein relativ hoher Anteil von Untersuchungs- gefangenen auch durch eine relativ kleine Haftpopulation mit eher kurzen Haftstrafen erklärt werden. Obwohl wir die unterschiedlichen Raten Verdächtiger, die in U-Haft lan- den, gerne in den beteiligten Ländern verglichen hätten, waren diese Statistiken nicht ver- fügbar bzw. nicht vergleichbar.

1.4. Die Bedeutung von rechtlich-sozialen und kulturellen Kontexten

Obwohl die Statistiken des Council of Europe einer der Faktoren waren die unser Inte- resse geweckt haben, sagen diese Statistiken allein nichts über gute oder schlechte U- Haft-Praktiken in den einzelnen Ländern aus. Das zentrale Ziel unseres Projekts war es, die Praxis von U-Haft-Entscheidungen in ihrem rechtlich-sozialen und kultu- rellen Kontext zu untersuchen und zu bewerten. Wir betrachteten Entscheidungs- findungen hier nicht als individuelle Handlungen, sondern als ein kollektives Verfahren, in das verschiedene Akteure und Personen involviert sind, die einander gegenseitig be- einflussen.16 Wie im methodologischen Abschnitt näher beschrieben, haben wir einen qualitativen, interdisziplinären und interpretativen Ansatz gewählt, der uns helfen sollte, unsere Ziele zu erreichen. Wie wichtig ein solcher Ansatz ist, sei hier mit einigen Beispie- len erklärt. Die im Vergleich mit anderen Ländern hohe Anzahl an Ausländern in U-Haft in Österreich, kann nur im Kontext der Migrationsbewegungen der 90er Jahre und stär- ker seit 2000 verstanden werden. Diese hatte in Österreich ein wesentlich größeres Aus- maß als in anderen Ländern. Dies macht die Frage nach einer ungleichen Behandlung von

15 In Belgien und Österreich zählen U-Gefangene in Electronic Monitoring als U-Gefangene, weil es sich dabei um eine Vollzugsform handelt.

16 Was Hawkins als “individual decision-making” bezeichnet hat, Hawkins, K. (2003). Order, rationality and silence: some reflections on criminal justice decision-making, in L. Gelsthorpe and N. Padfield (eds.) Exercising Discretion: Decision-Making in the Criminal Justice System and Beyond. Collumpton:

Willan, pp. 186–219

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Ausländern natürlich nicht weniger relevant, aber die Unterschiede sollten im Zusam- menhang mit den unterschiedlichen nationalen Kontexten analysiert werden. Ein weite- res Beispiel dieses kontextuellen Ansatzes betrifft die Unterschiede bei den Begründun- gen für U-Haft, wie sie in den verschiedenen Rechtssystemen zur Anwendung kommen.

Wir könnten die extensive Anwendung des Risikos der Fluchtgefahr als Begründung für U-Haft in Deutschland - z.B. im Vergleich zu den Niederlanden - nicht ausreichend ver- stehen, ohne zu wissen, dass Tatverdächtige in Deutschland vor Gericht erscheinen müs- sen. In den Niederlanden hingegen kann das Verfahren gegen eine/n Beschuldigte/n auch ohne diese/n stattfinden. Schließlich könnten wir die Entwicklungen der U-Haftraten in Litauen nicht ausreichend verstehen, ohne diese im Kontext von Litauens Geschichte als osteuropäisches Land, das erst kürzlich Mitglied der EU wurde, zu betrachten. Der signi- fikante Abwärtstrend in der Anwendung von U-Haft im letzten Jahrzehnt kann zumindest teilweise mit der Anpassung von U-Haft-Praktiken an europäische Werte und Normen in Bezug auf U-Haft erklärt werden.

1.5. Durchführung der Studie – Bemerkungen zur Methodik

Wie oben beschrieben, waren unsere Ausgangspunkte ein gemeinsames normatives Men- schenrechtskonzept einerseits, offensichtliche Unterschiede wie sie in den Statistiken zur Population der Untersuchungsgefangenen zum Ausdruck kommen andererseits. Wir konnten auf einen umfangreichen Bestand an Rechtsprechung zurückgreifen, auf natio- naler wie auf der Ebene des EGMR. Weiters konnten wir auf einige, wenn auch nicht viele andere Forschungsergebnisse aufbauen – oft konzentriert sich bereits bestehende For- schung auf theoretische Ansätze und es existieren nur wenige empirische Arbeiten.17 Der Wert einer komparativen Studie, die Sekundärforschung und Feldforschung kom- biniert liegt unserer Ansicht nach in der zusätzlichen Ebene der Reflexion: Der Ver- gleich mit anderen Systemen hat das analytische Potential, das eigene System (besser) zu verstehen. Gemeinsamkeiten zu finden unterstützt die Zusammenarbeit praktisch – in der Forschung als auch in der Lösung grenzüberschreitender Fälle. Fälle der „guten Pra- xis“ in anderen Ländern bieten ein Archiv für mögliche Lösungsansätze im eigenen Land, solange wir uns der rechtlichen und sozialen Kultur, der sie entspringen, bewusst sind (was wiederum von sorgsamer Forschung abhängt).

Ein qualitativer Ansatz kann relevante, kontextuelle Faktoren erforschen und mögli- che Variationen innerhalb desselben Kontexts zeigen. Die Entwicklung der genutzten

17 Die Ergebnisse unserer Recherchen zu nationaler Literatur, Statistiken und Rechtsprechung finden sich in den 1st National Reports auf der Projektwebsite: http://www.irks.at/detour/publications.html

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Tools (Interviewleitfäden, Leitfäden für die thematische Analyse etc.) war keine einfache Aufgabe, wenn man bedenkt, dass wir sechs unterschiedliche Sprachen sprechen, unter- schiedliche rechtliche Rahmenbedingungen in den beteiligten Ländern bestehen und die ForscherInnen schließlich aus unterschiedlichen Disziplinen kommen (Recht, Krimino- logie, Soziologie, Sozialarbeit, Psychologie). Die notwendigen, kontinuierlichen Diskussi- onen zwischen den Projektpartnern einerseits, und die Übersetzungsarbeit der Forsche- rInnen andererseits öffneten die Möglichkeit (oder andersgesagt: zwang uns) ständig über den Inhalt und die Methoden unserer Studie zu reflektieren – Ein An- satz, der paradigmatisch für qualitative Forschung ist und valide Ergebnisse si- cherstellt. Bei der Entwicklung unserer Arbeitsmittel schenkten wir der Festlegung ge- meinsamer Strukturen besondere Beachtung, während wir gleichzeitig die Möglichkeit nationaler Anpassungen berücksichtigten (z.B. in Bezug auf die Auswahl der Inter- viewpartnerInnen: Bewährungshilfe ist etwa in Deutschland oder Rumänien nie in Ent- scheidungsprozesse involviert, weswegen Bewährungshelfer dort nicht interviewt wur- den).

Wir entschieden uns für einen Zweiphasen Ansatz: In einer explorativen Phase untersuch- ten wir in allen Ländern Fälle (Akten), primär um zu sehen, wie Haftbefehle und andere Entscheidungen im Zusammenhang mit U-Haft aussehen, und wir beobachteten “Haft- verhandlungen” (in denen Haft angeordnet oder überprüft wurde); auch um einen Ein- druck davon zu bekommen, wie unterschiedliche Akteure den Entscheidungsprozess be- züglich U-Haft beeinflussen. Die gesammelten Daten dieser Phase wurden nicht im Detail analysiert, sondern genutzt, um Details in Hinblick auf die folgenden Erhebungen zu er- kunden und zu planen, vor allem für die Entwicklung der Interviewleitfäden. Ausführli- che Interviews in der zweiten Phase bildeten den Kern unserer Forschung. In jedem Land wurden 30-35 Interviews mit RichterInnen, Staats- und Rechtsanwäl- tInnen geführt, in manchen Ländern zusätzlich mit BewährungshelferInnen, Gefängnis- personal oder PolizistInnen. Als innovatives Tool wurde eine Fallvignette entwickelt, die bei den Interviews eingesetzt wurde, um die Reaktionen der InterviewpartnerInnen in den verschiedenen Ländern zum selben Vorfall (Einbruchdiebstahl) zu vergleichen.18 Die Erstellung dieser Vignette war bereits für sich eine komplexe Aufgabe, da es sich um einen

„gewöhnlichen“ Vorfall handeln musste, der genug Raum für unterschiedliche Entschei- dungen zuließ, und der in allen Rechtssystemen funktionieren würde. Im Lauf des Pro- jektes wurden drei Workshops durchgeführt, die der Präsentation und Diskussion erster

18 Für Methodologie zum Einsatz der Vignette in einem komprativen kriminologischen Kontext siehe Maguire et al, European Journal of Probation 2015.

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Ergebnisse dienten und uns wichtige Einblicke gewährten. Vor allem die Einblicke hin- sichtlich rechtlicher oder beruflicher und (rechts-) kultureller Traditionen waren wertvoll, zumal diese kaum über Datenerhebungen zugänglich sind.

Dieser vergleichende Bericht versucht die wichtigsten Ergebnisse zusammenzufas- sen, die das Potential haben, nicht nur bestimmte Praktiken und kritische Aspekte zu er- klären, sondern auch „gute Praktiken“ hervorheben und politische sowie praktische Emp- fehlungen ableiten lassen: Der Bericht basiert auf zwei umfangreichen, nationalen Berichten pro beteiligtem Land, die auf der Projektwebsite verfügbar sind.19 Der erste beinhaltet die Ergebnisse unserer Sekundäranalyse der rechtlichen Situation, Sta- tistiken und vergangener Studien, der zweite präsentiert die Ergebnisse unserer empiri- schen Arbeit. Im folgenden 2. Kapitel werden die rechtlichen Gründe für Untersuchungs- haft und die relevanten Entscheidungsfaktoren besprochen und diskutiert. Kapitel 3 be- handelt die unterschiedlichen Akteure, ihre rechtlichen und tatsächlichen Rollen und Leistungen. Kapitel 4 befasst sich mit der Praxis der milderen (oder „alternativen“) Maß- nahmen. Kapitel 5 beinhaltet die Ergebnisse zu verfahrensrechtlichen Aspekten in Bezug auf praktische Probleme als auch auf die rechtlichen Sicherheitsvorkehrungen, also die Überprüfungsverfahren. Das letzte Kapitel, in dem substantielle empirische Befunde ver- gleichend diskutiert werden, Kapitel 6, beschäftigt sich mit europäischen Aspekten und vor allem mit grenzübergreifenden Kooperationen. Im Schlusskapitel 7 werden schließ- lich Schlussfolgerungen aus allen Kapiteln gezogen und Empfehlungen formuliert.

19 http://www.irks.at/detour/publications.html

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2. Die Entscheidungsbasis: Haftgründe, faktische Beweg- gründe und maßgebliche Faktoren

2.1. Einleitung

Die Beschreibungen der rechtlichen Bestimmungen in Bezug auf U-Haft in den beteiligten Ländern20 deuten an, dass die grundlegenden Prinzipien relativ ähnlich sind und die Standards der EMRK und die Rechtsprechung des EGMR in Bezug auf Art. 5 (1) und (3) respektieren.21 Die folgenden Prinzipien können als gemeinsam angesehen werden. Eine Person darf nur in Untersuchungshaft angehalten werden, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind:

 Es gibt einen ausreichend begründeten Verdacht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat und eine ausreichende Wahrscheinlichkeit, dass es auf- grund dieses Vorwurfs zu einer Verurteilung und einer Haftstrafe kommen wird;

 Es gibt gewichtige Gründe anzunehmen, im Falle einer Entlassung würde er/sie entweder

 versuchen, sich der strafrechtlichen Verfolgung, dem Verfahren oder einer Bestrafung zu entziehen oder

 den rechtlichen Prozess behindern, beispielweise durch Manipulation von Beweisen oder Beeinflussung von Zeugen, oder

 (eine) weitere erhebliche Straftat begehen.22

 In Anbetracht sowohl der Unschuldsvermutung als auch der grundlegenden, po- sitiven Vermutung für die Aufrechterhaltung der Freiheit sollte U-Haft für Tat- verdächtige immer die Ausnahme sein;

 Das Verhältnismäßigkeitsprinzip in strafrechtlichen Angelegenheiten verlangt, dass Zwangsmaßnahmen nur eingesetzt werden, wenn diese angemessen zur be- gangenen Tat und zur erwartbaren Strafe sind und auch nur so lange wie nötig dauern;

 Untersuchungshaft sollte stets nur als eine letzte Option eingesetzt werden, wenn weniger schwerwiegende Maßnahmen nicht ausreichen um Kontrolle über den/die Tatverdächtig/e sicherzustellen, und um sein/ihr Erscheinen vor Gericht zu garantieren;

20 Für Details siehe 1. Nationale Berichte zu Österreich, Belgien, Deutschland, Irland, Litauen, die Niederlande und Rumänien, www.irks.at/detour/publications.html

21 Siehe Kapitel 6.1.

22 In Ausnahmefällen kann eine “shocked legal order” (Auswirkungen auf die Rechtsordnung) ebenfalls ein Grund für U-Haft sein, siehe unten und Kapitel 6.1. und der 1. Nationale Bericht der Niederlande, www.irks.at/detour/publications.html

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Ausgehend davon wird dieses Kapitel Details der Begründungen und Beweggründe für Untersuchungshaft in der Praxis erkunden, sowie andere Faktoren, die als einflussreich im Entscheidungsprozess genannt wurden.

2.2. Die gesetzlich definierten U-Haftgründe in der Praxis

2.2.1. Fluchtgefahr und präventive Haftgründe

Betrachtet man die Haftgründe in den beteiligten Ländern, so scheinen sich diese auf den ersten Blick in zwei Gruppen aufzuteilen: Einerseits gibt es Länder, in denen U- Haft meist aufgrund einer Vermutung verhängt und begründet wird, dass der/die Tat- verdächtige versuchen wird, sich strafrechtlicher Verfolgung, Verurteilung und/oder Bestrafung zu entziehen (Fluchtgefahr). Die Antworten der befragten Experten und vorliegende Daten deuten darauf hin, dass dies auf Deutschland, Irland, Litauen und Rumänien zutrifft. Neben den Risiken in Bezug auf Verdunkelung bzw. Be- hinderung der Justiz, kann diese Begründung als „Klassiker“ angesehen werden. Der Be- griff „Klassiker“ bezieht sich darauf, dass diese Haftgründe auf die Sicherung der straf- rechtlichen Ermittlungen, des Verfahrens, der Verurteilung und schließlich des Strafvoll- zugs abzielen; dies sind die geschichtlich gesehen zentralen Motive der meisten Rechts- systeme.23 Verdunkelungsgefahr spielt in allen beteiligten Ländern eine eher kleine Rolle – Anwendungen beziehen sich meist auf frühe Stadien des Verfahrens und vor allem auf Fälle mit mehreren Tatverdächtigen. Nur in Belgien wird die Verdunkelungsgefahr laut den Experten am Beginn der Ermittlungen relativ regelmäßig angewandt, beispielsweise in Fällen von Drogenkriminalität.

In der anderen Ländergruppe sind es meist präventive Gründe, die zu U-Haft führen. Interessanterweise unterscheiden sich hier Österreich und Deutschland, die zwei Nachbarstaaten mit relativ ähnlichen rechtlichen Traditionen. Während vorliegende Da- ten aus Österreich zeigen, dass die Tatbegehungsgefahr in 90% aller U-Haft Fälle zur An- wendung kommt, wird in Deutschland die Fluchtgefahr in 90% aller U-Haft Fälle ange- wandt. Fluchtgefahr wird in Österreich dennoch in geschätzten 60% der U-Haft Fälle zu- sätzlich bejaht, während Tatbegehungsgefahr in Deutschland eine geringe Rolle spielt und nur in etwa 6% der Fälle angenommen wird. Diese Dominanz des Tatbegehungs- oder Wiederholungsrisikos in der österreichischen U-Haft-Praxis scheint auch auf sehr detail-

23 Siehe zum Beispiel Morgensten 2018 (Fn. , C., Die Untersuchungshaft. Eine Untersuchung unter rechtsdogmatischen, kriminologischen, rechtsvergleichenden und europarechtlichen Aspekten. Baden- Baden, Nomos, 2018

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lierte Bestimmungen diesbezüglich zurückzuführen zu sein, die diverse bzw. breite An- wendungsmöglichkeiten bieten. Diese Bestimmungen wurden den Berichten aus der Pra- xis zufolge 1993 nicht zuletzt deshalb eingeführt, um die bereits häufige Anwendung die- ses Haftgrunds zurückzudrängen.24 Dies hat augenscheinlich nicht funktioniert, was wie- derum auch belegt, wie schwer es ist, die U-Haftpraxis mittels gesetzlicher Änderungen steuern zu wollen. Ein weiterer Grund für die Vorherrschaft dieses Haftgrunds kam in den Experteninterviews zum Ausdruck. Einigen österreichischen Praktikern zufolge ist es ver- gleichsweise schwer, die rechtlichen Bedingungen für ein Fluchtrisiko zu begründen. Das Risiko einer Tatbegehungs- oder Wiederholungsgefahr wurde hingegen oft als präferier- ter Haftgrund beschrieben, weil es ein starker Grund ist, der in vielen Fällen relativ ein- fach begründet werden kann. Das breite Anwendungsspektrum dieses Haftgrunds kommt nicht zuletzt dadurch zum Ausdruck, dass er oft auch bei relativ geringen Delikten im Zu- sammenhang mit dem sogenannten „Kriminaltourismus“ zur Anwendung kommt, bei de- nen angenommen wird, dass sie auf ein regelmäßiges Einkommen abzielen. Die Ergeb- nisse der deutschen Erhebungen zeigen andererseits, dass dort die Annahme eines Fluch- trisikos aufgrund der rechtlichen Bestimmungen einfacher begründet werden kann. Dort ist das Risiko der Tatbegehungs- oder Wiederholungsgefahr nur als subsidiärer Haft- grund definiert, der von weiteren Kriterien abhängt: beispielsweise, dass es Hinweise auf (mehrmals) wiederholte oder fortgesetzte Straftaten gibt.

Laut Schätzungen wird das Fluchtrisiko in 80-90% aller U-Haft Fälle in Litauen ange- wandt, meist in Kombination mit anderen Gründen, vor allem der Wiederholungsgefahr (ca. 50% der Fälle). Wie auch in Deutschland deuten die Erklärungen an, dass ein Fluch- trisiko ohne besondere Einschränkungen begründet werden kann. Trotz Hinweisen auf eine regelmäßige Anwendung des Wiederholungsrisikos in U-Haft Fällen in Rumänien, wurde auch dort die Sicherung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens, des Strafpro- zesses und des Strafvollzugs als wichtigster Beweggrund für U-Haft dargestellt.

Eine oftmals vorgebrachte Kritik in Bezug auf die Annahme einer Wiederholungs- oder Tatbegehungsgefahr als Haftgrund bezieht sich auf die Kombination strafrechtlicher Verfolgung und strafrechtlicher Prävention.25 Irland hat diesen Haftgrund erst 1997 mit einem neuen Artikel (40.4.6) in der irischen Verfassung eingeführt. Auf diesem Weg wurde eine Entscheidung des Obersten Gerichtshof obsolet, die diesen Haftgrund ablehnte, weil er eine Präventivjustiz im Bereich des U-Haftrechts zulassen würde.26 Dies

24 2.. Nationaler Bericht Österreichs S. 21, http://www.irks.at/detour/publications.html

25 Morgenstern 2018 (Fn. 8). 392

26 People (Attorney General) v. O’Callaghan [1966] I.R. 501.

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wäre mit dem Grundgedanken von „Bail“ (Abwarten des Prozesses in Freiheit unter Auf- lagen) nicht vereinbar, das als Maßnahme zur Sicherung des strafrechtlichen Verfahren definiert ist. Interessanterweise berichteten die irischen Experten, dass sich die Praxis seit der Einführung der Wiederholungs- oder Tatbegehungsgefahr als Haftgrund nur wenig verändert hat. Dies belegt einmal mehr die Bedeutung und die Beständigkeit recht- licher Traditionen und Kulturen in der Praxis. Der „neue“ Haftgrund, der kon- krete Hinweise auf Risiken der Begehung schwerer Straftaten voraussetzt, wird aber doch auch angewendet, meist allerdings in Kombination mit anderen Gründen. Die Rechtskul- tur stellt sich in den meisten am Projekt beteiligten Ländern unterschiedlich dar, Irland nimmt im Vergleich aber zweifellos eine besondere Position ein. Dies wird alleine dadurch deutlich, dass zunächst in jedem Fall, in dem eine U-Haft in Erwägung gezogen wird, zu- nächst grundsätzlich davon ausgegangen wird, dass der/die Beschuldigte auf „Bail“ (Kau- tion) entlassen werden kann und dementsprechend „Bail“ auch als die Standardvorgangs- weise bezeichnet wird. Daraus resultiert auch eine andere Annäherung an die Haft- gründe.Das Fluchtrisiko ist der am häufigsten angewandte Haftgrund in Irland. Wie auch in den anderen Ländern sind Vorstrafen, erwartetes Strafmaß, Aufenthaltsort/Wohnort und soziale Kontakte (z.B. Familie, Beruf) Kriterien, die in den Kautions- bzw. U-Haft Entscheidungen bei Annahme einer Fluchtgefahr eine Rolle spielen. Ein weiterer Faktor, der in den irischen Interviews von Bedeutung war, ist die Vorgeschichte eines Tatverdäch- tigen in Bezug auf Bail, d. h. ob er ggf. zuvor gegen entsprechende Auflagen verstoßen hat.

Sie ist dann maßgeblich bei der Bewertung eines Fluchtrisikos; frühere Verfehlungen diesbezüglich erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer U-Haft erheblich.

In anderen Ländern wurde dieser Aspekt kaum oder nicht explizit erwähnt. Dies kann teils durch die in manchen Ländern zurückhaltende Anwendung von Alternativen zur U- Haft (z.B. Deutschland, Österreich), oder einer hohen Anzahl an Ausländern, die oft keine Vorstrafen im besagten Land haben (z.B. Belgien), erklärt werden. Dieser Unterschied kann jedoch auch dadurch bedingt sein, dass „Bail“ die Standardvorgehensweise in Irland ist, die in der Regel auch mit einer aktiven Suche nach Lösungen/Bedingungen verbunden ist, die eine Entlassung ermöglichen. Eine Konsequenz davon könnte dann allerdings auch sein, dass man hier Verfehlungen diesbezüglich auch mehr Bedeutung zuspricht als in Systemen, die Alternativen von vornherein weniger Aufmerksamkeit schenken. Ein in- teressanter Aspekt der Beurteilung der Fluchtgefahr wurde in Litauen betont. Vor dem Hintergrund, dass viele litauische Staatsbürger ihr Land aus ökonomischen Gründen ver- lassen, wird (sozialen) Kontakten außerhalb des Landes besondere Aufmerksamkeit ge- widmet und in solchen Fällen ein höheres Fluchtrisiko angenommen. Enge soziale Bezüge zu anderen Ländern werden aber durchaus auch in anderen Ländern als Argumente für ein Fluchtrisiko gesehen.

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In Belgien und den Niederlanden kommt die Prävalenz von Präventivgründen im Zusam- menhang mit U-Haft besonders deutlich zum Ausdruck. Ähnlich wie in Österreich sind in beiden Ländern die rechtlichen Bedingungen für die Annahme eines Risikos neuer Straf- taten weit gefasst und Experten führten aus, dass dieser Haftgrund leicht zu begründen wäre. In beiden Ländern verwiesen die Praktiker auch darauf, dass die Annahme eines Tatbegehungs- oder Wiederholungsrisikos nicht notwendigerweise Vorstrafen voraus- setzt und dass soziale Umstände und persönliche Probleme (z.B. Drogensucht, finanzielle Probleme, Aggression usw.) oft ausreichen, diesen Haftgrund zu rechtfertigen. Die recht- lichen Konzepte und Begründungen hinter diesen Präventivansätzen scheinen in diesen Ländern noch breiter gefächert zu sein als in Österreich. In Belgien und den Niederlanden ist der Gedanke der „öffentlichen Sicherheit“ von zentraler Bedeutung für die rechtliche Regelung von U-Haft. Die Ausstellung eines Haftbefehls ist in Belgien nur dann möglich, wenn dieser unbedingt nötig ist, um die öffentliche Sicherheit zu garantieren. Laut unse- ren GesprächspartnerInnen wird diese Bedingung jedoch leicht erfüllt, da sie keine de- taillierte Begründung erfordert. Neben weit gefassten Definitionen von Sicherheitsrisiken (z.B. auch Staatssicherheit) in den Niederlanden, existiert dort auch ein Haftgrund, der U-Haft verlangt, wenn die Notwendigkeit eines besonders raschen Verfahrens nach schweren (besonders schockierenden) STraftaten in der Öffentlichkeit oder gegen (Staats- )Beamte (PolizistInnen, Feuerwehrleute oder Rettungssanitäter) angenommen wird. Die eher seltene Annahme von Fluchtrisiken könnte zum Teil auch dadurch zu erklären sein, dass in Belgien27 und den Niederlanden (anders als beispielsweise in Deutschland) Pro- zesse und Urteilssprüche auch ohne den/die Beschuldigte/n stattfinden können. Diese Option findet sich auch in Österreich, wird jedoch laut den befragten RichterInnen selten genutzt, wahrscheinlich wegen der eng gefassten Voraussetzungen, die erfüllt werden müssen.28

Die U-Haft-Raten in den Projekt-Ländern lassen vermuten, dass Länder, die sich in U- Haft-Entscheidungen vor allem auf präventive Aspekte stützen, tendenziell höhere Raten aufweisen als Länder, die stärker die Sicherung der Strafverfolgung betonen.29 Das Bei- spiel Litauens mit relativen hohen U-Haftraten und überwiegender Anwendung der Fluchtgefahr widerspricht dieser Hypothese. Allerdings ist bei Litauen davon auszugehen,

27 Der Haftgrund der Fluchtgefahr wird dennoch oft bei ausländischen Staatsangehörigen ohne Wohnsitz in Belgien angewandt.

28 In Fällen mit einem möglichen Haftstrafe bis zu drei Jahren, wenn der/die Tatverdächtige bereits eingenommen wurde und es eine Adresse gibt, zu der eine Vorladung geschickt werden kann.

29 Siehe Kapitel 1.3.

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dass die politische Vergangenheit hier noch nachwirkt, und weiter zurückgehende U-Ge- fangenenzahlen die These ebenfalls stützen.30

2.2.2. Die Schwere der Straftat und U-Haft Entscheidungen

Die Schwere der Straftat und die erwartetet Strafe wird in allen Ländern bei U-Haft- bzw. Bail-Entscheidungen berücksichtigt. Sie ist auch ein Aspekt, der bei der Bewertung der Verhältnismäßigkeit von U-Haft eine Rolle spielt. Die Verhältnismäßigkeit wurde von unseren InterviewpartnerInnen interessanterweise selten angesprochen. Manche RichterInnen und StaatsanwältInnen in Österreich und Belgien erklärten, dass das Ver- hältnismäßigkeitsprinzip meist eher leicht erfüllt ist, vor allem aufgrund der in diesen Fällen meist zu erwartenden Strafmaße. Wenig überraschend waren viele Rechtsanwäl- tInnen hier anderer Meinung (z.B. in AT und BE). Tatsächlich scheint der Ermessenspiel- raum bei der Beurteilung der Schwere der Tat in allen Ländern relativ groß zu sein. Ver- gleiche zwischen den Ländern sind uns diesbezüglich allerdings nicht möglich, zumal sich zeigte, dass selbst innerhalb der Länder eine beträchtliche Varianz an unterschiedlichen Definitionen zu finden ist. Der deutsche Bericht zeigt beispielsweise eine bemerkenswerte Variation innerhalb der Auswahl: In Bezug auf Haftschwellen bezogen sich manche Inter- viewpartner auf Mindeststrafen und erklärten, dass in manchen Fällen mit einem ange- drohten Strafsatz von sechs Monaten bis einem Jahr U-Haft zulässig und möglich sei. An- dere verwiesen wiederum auf ein Höchstmaß und gaben an, dass sich bei einem ange- drohten Strafsatz von mindestens 5 Jahren U-Haft kaum vermeiden ließe.31 Während das voraussichtliche Strafmaß in den Interviews in allen Ländern eine Rolle spielte, wird die Entscheidung für U-Haft, außer bei schwersten Straftaten, in der Regel nicht alleine mit der Schwere der Tat begründet. Die befragten RichterInnen und StaatsanwältInnen gaben vielmehr in allen Ländern und regelmäßig an, bei ihrer Entscheidung stets eine Vielzahl an Faktoren zu bedenken.

In allen Ländern gibt es bestimmte Straftaten, die laut Expertenaussagen die Wahrscheinlichkeit für U-Haft erhöhen, beispielsweise Sexualstraftaten, schwere Gewaltverbrechen, Menschenhandel oder Drogenkriminalität. In den Niederlanden wurde erklärt, dass “high-impact Kriminalität”, also Kriminalität, die einen großen Ein-

30 In Litauen gab es in der jüngeren Vergangenheit weitreichende (auch rechtliche) Veränderungen, die zu einem nennenswerten Rückgang der Anzahl der U-Gefangenen geführt haben. Weiterführende Bemühungen lassen vermuten, dass die Anzahl noch weiter zurückgehen wird. Unter Berücksichtigung der politischen Vergangenheit und der Gesamtzahl der Inhaftierten in Rumänien, scheint auch Rumänien hier für eine Überraschung in Bezug auf die U-Haft-Zahlen gut zu sein.

31 2. Nationaler Bericht Deutschlands, S. 32 ff , http://www.irks.at/detour/publications.html

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fluss auf die Wahrnehmung von Sicherheit hat oder hohe Rückfallraten auf- weist, fast automatisch zu U-Haft führt. Beispiele dafür sind Raub oder Einbruchdieb- stahl. Aus Österreich, Deutschland, Belgien, Irland und den Niederlanden wurde auch berichtet, dass häusliche Gewalt oft zu U-Haft führen würde. Allerdings wurde hierzu auch festgehalten (AT, IE), dass die Beurteilung in diesen Fällen oft sehr schwierig wäre.32 In Deutschland ist die Schwere der Tat nach der Gesetzesfassung alleine ein Haftgrund, das Bundesverfassungsgericht hat seine Anwendung allerdings insofern eingeschränkt, als geprüft werden muss, dassdie anderen Haftgründe zumindest nicht ausgeschlossen sein dürfen. Er wird nicht oft angewandt, weil er schwerste Straftaten, die selten vorkom- men, voraussetzt. Das Motiv hinter diesem Haftgrund ist der Einfluss von Schwerstdelik- ten auf die Öffentlichkeit.33 In den Niederlanden gibt es, ganz ähnlich, einen Grund für U-Haft, wenn das voraussichtliche Strafmaß 12 Jahre oder mehr ausmacht und aufgrund dessen ernsthafte Störungen der rechtlichen (und sozialen) Ordnung befürchtet werden.34 In der Praxis scheint bei diesem Haftgrund vor allem die Schwere der Tat im Mittelpunkt zu stehen, während genauere Begründungen der ernsthaften Störung der rechtlichen Ord- nung meist ausbleiben. In Österreich verlangt das Gesetz die Verhängung von U-Haft, wenn es sich um einen Fall handelt, der mit mindestens zehn Jahren Haftstrafe bedroht ist, es sei denn, es gibt Grund zur Annahme, dass alle rechtlich festgelegten Haftgründe ausgeschlossen werden können.35 In der Praxis werden Beschuldigte solcher Straftaten immer in U-Haft genommen, was die Vermutung nährt, dass der Einfluss von schwersten Straftaten auf die Öffentlichkeit auch hier eine Rolle spielt. Schwerste Straftaten führen wohl in den meisten Ländern zu U-Haft, allerdings nicht unbedingt in Irland. Obwohl die Schwere von Straftaten als wichtiger Faktor betrachtet wird, der gegen „Bail“ spricht, wurde dennoch berichtet, dass selbst in Mordfällen oft „Bail“ bewilligt wird. Noch über- raschender sind allerdings Berichte aus Litauen, wonach auch hier schwere Verbrechen (wie Mord oder Drogenhandel) nicht notwendigerweise zu U-Haft führen.

Zusätzlich spielt die Schwere der Tat in allen Ländern bei der Beurteilung des Fluchtrisikos eine Rolle, in manchen Ländern auch bei der Beurteilung des Risikos der Wiederholungs- oder Tatbegehungsgefahr (z.B. gibt es in AT und den NL unter ande- rem eine Definition des Rückfallsrisikos basierend auf der Schwere der Tat). Indirekt hat die Schwere der Tat auch dadurch einen Einfluss auf die Beurteilung des Fluchtrisikos,

32 Meistens vermutlich wegen konträrer Aussagen von Angeklagten und Opfern.

33 1. Nationaler Bericht Deutschlands, S. 12, http://www.irks.at/detour/publications.html

34 2.. Nationaler Bericht der Niederlande, S. 43, http://www.irks.at/detour/publications.html

35 1.. Nationaler Bericht Österreichs, S. 10, http://www.irks.at/detour/publications.html

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weil bei zu erwartenden hohen Strafen stets angenommen wird, dass das Fluchtrisiko hoch ist.

2.3. Zur Untermauerung der Begründungen

2.3.1. Zeitdruck und persönliche und soziale Informationen zu den Verdächtigen Die Entscheidungen über U-Haft oder Entlassung mit oder ohne Bedingungen werden maßgeblich durch die kurze dafür zur Verfügung stehende Zeit geprägt.36 StaatsanwältIn- nen und RichterInnen in den beteiligten Ländern verweisen auf diesen Zeitdruck und manche sprechen an, dass die vorhandenen Informationen oft sehr begrenzt sind. Im All- gemeinen beklagen sie dies jedoch nicht. Im Gegenteil, RichterInnen und StaatsanwältIn- nen bezeichneten die zur Verfügung stehende Zeit und die vorliegenden Informationen meist als ausreichend (z.B. AT, DE, ROM). In allen Ländern hat man sich mit dieser Situ- ation offenbar arrangiert bzw. hat man gelernt, in der Praxis damit umzugehen. Bezüglich persönlichen und sozialen Informationen über den/die Verdächtige/n kam dennoch zum Ausdruck, dass hier oft ein Mangel an Informationen besteht (vor allem in AT, DE, BE, ROM, NL). Andererseits kann man aus unseren Ergebnissen schließen, dass diese Art der Informationen für Entscheidungen generell wichtig und hilfreich sind, ganz besonders aber in Bezug auf gelindere Mittel oder Entlassungen ohne Bedingungen. Nur die Rück- meldungen aus Rumänien deuten an, dass diesen Informationen dort im Entscheidungs- prozess wenig Beachtung geschenkt wird. Meist werden diese Informationen von den An- geklagten selbst eingebracht und/oder sie werden von der Verteidigung erwartet.

Sozialarbeiterische Einrichtungen können hier eine wichtige Rolle spielen. Abgesehen von der Unterstützung für EntscheidungsträgerInnen kann die Einbeziehung von prakti- scher sozialer Arbeit auch die Beschuldigten dabei unterstützen, Maßnahmen zu organi- sieren, mit denen die Entlassung möglich würde (z.B. eine Wohnung zu finden, etwaige Behandlungen oder Anstellungen etc.). In Deutschland könnte hierbei die Gerichtshilfe für Erwachsene eingebunden werden, bis jetzt wird dies aber nicht praktiziert. Die dortige Jugendgerichtshilfe ist wie in Österreich (wo es allerdings ein entsprechendes Angebot für Erwachsene nicht gibt) häufig in diesem Sinne bei Jugendlichen eingebunden. Bei Ju- gendlichen wird diese Option auch von den Praktikern geschätzt. In den Niederlanden sind die Berichte über Erfahrungen mit dieser Option gemischt. Positive Bewertungen überwiegen dann, wenn diese Unterstützungsangebote über die erforderlichen Ressour- cen verfügen. In Belgien können Bewährungshelfer auch für Berichte angefragt werden.

36 Siehe Kapitel 5.

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Aufgrund des Zeitdrucks passiert das aber selten. RichterInnen und StaatsanwältInnen reagierten unterschiedlich, wenn sie auf diese Art der Unterstützung angesprochen wur- den (was in den Berichten in AT, BE, DE, und NL beschrieben wird). Manche äußerten sich positiv dazu, andere sprachen sich eher dagegen aus. Immer wieder wurde die be- grenzte, zur Verfügung stehende Zeit angesprochen, mit der die Möglichkeiten und auch die Zweckmäßigkeit sozialer Erkundungen eingeschränkt würden.

2.3.2. Entscheidungsfindung und Ermessen

Betrachtet man die Faktoren und Kriterien, die in den Partnerländern für die Bewertung der Haftgründe herangezogen werden, so scheinen diese für das Fluchtrisiko und die Wiederholungs- oder Tatbegehungsgefahr weitgehend dieselben zu sein:

Vorstrafen, Schwere der Tat, erwarteter Strafsatz, Arbeitssituation, Einkom- menssituation, soziale und familiäre Beziehungen und sogar ein nicht vor- handener Wohnsitz wird nicht nur für die Begründung der Annahme einer Fluchtge- fahr herangezogen, sondern oft auch für die Untermauerung von Wiederholungs- oder Tatbegehungsgefahr.

Ein besonders interessantes Ergebnis dieser Studie ist deshalb, dass die Haftgründe zu einem gewissen Grad austauschbar erscheinen. Manche Antworten ließen vermuten, dass der im Zentrum der Begründungen stehende Haftgrund nicht unbedingt auch der ist, der im jeweiligen Fall als der faktisch maßgebliche betrachtet wird. In Österreich beispiels- weise wurde von Fällen berichtet, in denen der zentrale tatsächliche Grund für U-Haft die Befürchtung der Flucht war, der hauptsächlich ausgeführte Haftgrund war allerdings der einer Rückfalls- bzw. Tatbegehungsgefahr. Erklärt wurde dies damit, dass der Haftgrund der Wiederholungs- oder Tatbegehungsgefahr einfacher zu begründen wäre, und damit besser sichergestellt würde, dass der/die Verdächtige auch sicher in Untersuchungshaft bleiben würde. In Deutschland war dies genau andersrum: Hier gab es Anzeichen, dass ein Fluchtrisiko mitunter in Fällen angewendet wird, in denen eigentlich ein Rückfallsri- siko das zentrale Motiv ist. Wie bereits erwähnt, wird hier das Fluchtrisiko als der stärkere Haftgrund, der gleichzeitig auch einfacher zu belegen ist, gesehen. Dies bestärkt die An- nahme, dass der normative Rahmen für die rechtlichen Gründe möglicherweise weniger wichtig ist, sobald die Entscheidungsträger davon überzeugt sind, dass U-Haft notwendig ist und die Haftgründe so ausgerichtet werden können, dass die faktischen Risiken erfasst werden (zumeist bei Verdächtigen, die in schwierigen sozialen Umständen leben). In den Niederlanden wird dieser Verdacht auch in der Literatur bekräftigt.37 Nachdem Richte-

37 2.. Nationaler Bericht der Niederlande, S. 39, http://www.irks.at/detour/publications.html

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rInnen festgestellt haben, dass es sich um einen potentiellen Haftfall handelt und ein drin- gender Tatverdacht vorliegt, entscheiden sie zunächst darüber, ob sie den/die Betroffenen tatsächlich in Haft nehmen wollen. Erst dann werden die passenden Haftgründe ausge- wählt. Aufgrund seiner weit gefassten Definition ist das dort meist das Rückfallsrisiko.

Die „wahren“ Gründe für U-Haft können Prävention, Sicherheitsgründe, Vergel- tung/Strafe oder Vorwegnahme der Strafe, etc. sein (siehe unten).

Eine Kritik aus fast allen Ländern bezog sich auf die vorherrschende Praxis, U-Haft auf- grund sehr allgemeiner Annahmen zu begründen und eingehende Risikobe- wertungen zu verabsäumen (A, D, B, NL, LT, ROM). In Deutschland wurde hier immerhin die Schwierigkeit der Risikoprognose angesprochen.38 Wiewohl dem nicht wi- dersprochen werden kann, können wir andererseits davon ausgehen, dass Risikobewer- tungen von umfassenden Informationen über die Person und deren soziale Bedingungen profitieren. Dies könnte für die Einbeziehung anderer Institutionen sprechen, die die Ge- richte durch ihre Berichte (Sozialberichte) unterstützen. In Bezug auf das Fluchtrisiko wurde beispielsweise in Deutschland und Litauen von VerteidigerInnen erklärt, dass die- ses Risiko oft überbewertet würde, weil Flucht eine große Belastung darstellen würde und die Beschuldigten in der Regel nicht über die dafür erforderlichen finanziellen Mittel ver- fügen würden. Außerdem geben die Berichte aus Österreich, den Niederlanden und Bel- gien Grund zur Annahme, dass bei der Bewertung des Rückfallsrisikos oft nicht nur die (kurze) Zeit des strafrechtlichen Verfahrens, sondern auch die Zeit danach einbezogen und damit die Anwendung dieses Haftgrunds ausgeweitet wird.

Die U-Haft Praxis scheint in allen Ländern sehr von den Annäherungen und persönlichen Standpunkten der Entscheidungsträger abzuhängen. Ihr Ermessensspielraum ist of- fenbar umfangreich und er ist kaum von Vorgaben, wie etwa ausdrücklichen Schwellen (z.B. hohe Strafdrohungen) eingeschränkt. Dies zeigt sich beispiels- weise in der unterschiedlichen U-Haft-Praxis im Osten (vergleichsweise häufige Anwen- dung) und Westen (vergleichsweise seltene Anwendung) Österreichs und durch signifi- kante regionale Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern Deutschlands.39 In- teressanterweise geben RichterInnen und StaatsanwältInnen oft an, wenig über die allge- meine Praxis bezüglich U-Haft und Alternativen zu wissen, was auf eine geringe Reflexion über ihre eigene Praxis schließen lässt (z.B. AT, LT, IE). Aufgrund der knappen Zeit, der oft geringen Information sowie der teils komplexen Fälle erfordern Entscheidungen über

38 2. Nationaler Bericht Deutschlands, S. 23, http://www.irks.at/detour/publications.html

39 1..Nationaler Bericht Österreichs, S.18, und Deutschlands, S. 27, http://www.irks.at/detour/publications.html

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U-Haft zweifellos einen Ermessensspielraum. Umso mehr muss dann allerdings den ver- fahrensrechtlichen Schutzmaßnahmen und den Überprüfungsmöglichkeiten Aufmerk- samkeit geschenkt werden, damit die Rechte der Tatverdächtigen ausreichend geschützt werden. In den meisten Ländern wurde der Umstand, dass RichterInnen nur selten U- Haft-Anträge von StaatsanwältInnen ablehnen, kritisch kommentiert. Natürlich muss hierbei berücksichtigt werden, dass die Staatsanwaltschaft ja bereits zuvor Fälle ausge- sondert bzw. von einem Haftantrag ausgenommen hat. Die sehr hohen Bewilligungsraten, die aus den meisten Projektländern berichtet und auch in einem anderen vergleichenden Forschungsprojekt (durchgeführt von Fair Trials International) kritisiert werden, machen jedenfalls darauf aufmerksam, dass die Anträge immer kritisch überprüft werden müs- sen.40 Unter den Projektländern fällt einmal mehr Irland auf, wo U-Haft-Anträge offenbar regelmäßig abgelehnt werden (rechtlich korrekt ist eigentlich, dass Anträge der Staatsan- waltschaft, die gegen eine Gewährung von Bail gerichtet sind, regelmäßig abgelehnt wer- den).

2.4. Versteckte und außer-rechtliche Gründe für U-Haft und Motive

2.4.1. Verfahrensökonomie, ausländische Staatsangehörige und Generalpräven- tion

U-Haft scheint mitunter angewandt zu werden, weil es die einfachste Art ist das Ver- fahren zu sichern und die Ermittlungen zu gewährleisten. Es besteht die imma- nente Gefahr, dass das Ultima Ratio-Prinzip verfahrensökonomischen Aspekten unterge- ordnet wird. Ein regulärer Wohnsitz innerhalb der EU sollte dabei an sich gleichbehandelt werden wie ein Wohnsitz innerhalb des Verfahrenslandes.41 In unseren Interviews, bei- spielsweise in Belgien und Österreich, aber auch in Deutschland, gab es jedoch Rückmel- dungen, dass ein europäischer Wohnsitz nicht ohne Weiteres ausreicht, um ein Fluchtrisiko auszuschließen bzw. sehr unterschiedliche Haltungen dazu. Ei- nige Praktiker erklärten ihre demgegenüber ablehnende Haltung damit, dass es oft schwierig wäre, ausländische Wohnsitze zu verifizieren und mit Befürchtungen, der Ver- dächtigen letztlich nicht habhaft zu werden. Obwohl der Europäische Haftbefehl (Euro- pean Arrest Warrant – EAW) großteils und in allen Ländern als mittlerweile gut funktio- nierendes Instrument beschrieben wurde, verwiesen einige Praktiker auf Befürchtungen

40 Fair Trials, A Measure of Last Resort? The practice of U-Haft decision making in the EU, 2017, S. 13 https://www.fairtrials.org/wp-content/uploads/A-Measure-of-Last-Resort-Full-Version.pdf

41 Siehe Kapitel 6.2. un ddie Entscheidung des österreichischen Obersten Gerichtshofes 11 Os 31/08f, 27.02.2008.

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hinsichtlich Verzögerungen oder großen Aufwand.42 Vor diesem Hintergrund scheint es verlockend zu sein, „einfach“ Untersuchungshaft zu verhängen und damit die Beschuldig- ten zur Verfügung zu haben.

In manchen der Projektländer sind mehr als 50% der Untersuchungsgefangenen AusländerInnen (Österreich, Belgien und Deutschland).43 Die häufige Anwen- dung von U-Haft bei Ausländern lässt befürchten, dass diese nicht gleich wie Inländer behandelt werden könnten. Die Ergebnisse der Studie kommen nicht zum Schluss, dass ausländische Staatsangehörige per se ein höheres Risiko haben, in Untersuchungshaft ge- nommen zu werden. Es gibt jedoch bestimmte Gruppen von Ausländern, die definitiv ein höheres Risiko als andere haben, wie zum Beispiel „reisende Straftäter“ oder Ausländer, die keine sozialen Anbindungen oder keinen festen Wohnsitz (vor allem im Verfahrens- land, aber nicht nur) haben, sowie solche, die in Drogendelikte involviert sind. Die Ge- meinsamkeit des Großteils dieser Beschuldigten besteht vor allem darin, dass sie unter prekären sozialen Bedingungen leben. Gute finanzielle und soziale Bedingungen, wie bei- spielsweise in Österreich, ziehen Personen aus ärmeren Regionen an, wobei manche ihr Glück mit kriminellen Unternehmungen versuchen.

Verdächtige, die sozial integriert sind, haben eine größere Chance, U-Haft zu vermeiden, während andere, die unter instabilen, schlechten Bedingungen leben und oft nicht zuletzt deshalb Straftaten begehen, häufiger und oft sogar wegen geringer Vergehen in Untersu- chungshaft genommen werden. Staaten und Gesellschaften sind verständlicherweise da- rauf bedacht, solche Straftaten zu verhindern. Die sozialen Bedingungen dieser Verdäch- tigen machen es oft sehr einfach, Haftgründe zu rechtfertigen. Einerseits bleibt die Frage, ob das Verhältnismäßigkeitsprinzip und die Risiken immer den Anforderungen entspre- chend bewertet werden. Andererseits können generalpräventive Überlegungen die Ent- scheidungen beeinflussen, obwohl diese kein Entscheidungskriterium sein dürfen. Man- che österreichischen RichterInnen und StaatsanwältInnen erklärten, dass U-Haft für Kri- minaltouristen mitunter auch andere abschrecken soll, eine Sichtweise, die vereinzelt in auch Deutschland geäußert wurde. Generell hatten wir den Eindruck, dass Risiken e- her allen Mitgliedern bestimmter Gruppen zugeschrieben werden, als dass tiefgehende Analysen individueller Fälle vorgenommen würden.

42 Siehe auch Kapitel 6.2.

43 In Deutschland gibt es hier große Unterschiede zwischen den Bundesländern, siehe 1. Nationaler Bericht, S. 25. http://www.irks.at/detour/publications.html

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