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Literatur der Volkskunde

WEBER-KELLERMANN, Ingeborg, Andreas C. BIMMER und Sieg­

fried BECKER: Einführung in die Volkskunde/Europäische Ethnologie.

Eine W issenschaftsgeschichte. 3. vollständige überarbeitete und aktualisier­

te Auflage. Stuttgart-Weimar: J. B. Metzler, 2003, 222 Seiten.

Mehr als drei Jahrzehnte liegen zwischen der ersten und der dritten, überar­

beiteten und aktualisierten, Auflage dieses Klassikers unter den Handbü­

chern unseres Faches. Spiegelte der Titel des Werkes aus der Feder Ingeborg Weber-Kellermanns im Jahre 1969, „Deutsche Volkskunde zwischen Ger­

manistik und Sozialwissenschaften“, ein sich anbahnendes Selbstverständ­

nis des Faches als Sozialwissenschaft, so trug die Zweitauflage im Jahre 1985 einer sich stärker ausdifferenzierenden Wissenschaftslandschaft und den Bedürfnissen einer studentischen Leserschaft mit dem Titel „Einfüh­

rung in die Volkskunde/Europäische Ethnologie“ Rechnung. Dass dabei Anspruch und reale Möglichkeiten - nämlich bei größtmöglicher Beibehal­

tung des Originaltextes - auseinander fallen mussten, waren Weber-Keller- mann und ihrem Koautor Andreas C. Bimmer bewusst, wie sie im Vorwort zur zweiten Auflage anklingen ließen. Die dritte Auflage erschien zehn Jahre nach dem Tod Weber-Kellermanns und wurde ohne ihre Beteiligung, jedoch

„in seinen wesentlichen Zügen immer noch im Sinne und in der Intention seiner Autorin“ von Andreas C. Bimmer und Siegfried Becker erstellt.

Im Vorwort zu seiner Einführung in das Fach merkte Wolfgang Kaschuba an: „Wissenschaftliche Einführungstexte in die Geschichte und die Perspek­

tiven eines Faches sind stets ,Problembücher1 (...)“. Und sichtlich hatten es die beiden Verfasser besonders schwer. Denn ihnen oblag, neben der Ver­

waltung eines historischen, ja eines als klassisch gehandelten Textes, auch seine Aktualisierung in Zeiten geänderter Terminologie, erweiterter Forschungsfelder und konkurrierender Fachverständnisse. Im Vorwort zur 3. Auflage erklärten die Autoren, „alle heute gängigen Einführungen, Grundzüge, Grundrisse“ usw. erschienen deutlich später“ und machten da­

mit klar, dass sie den ältesten kursierenden Text mit Handbuch- und Über­

blickcharakter zu überarbeiten hatten. Dabei ist offensichtlich, dass mit dem Austausch des einen oder anderen Begriffes, der Ergänzung, Glättung oder Berichtigung, der Zusammenführung und Umbenennung, keine neue

„Einführung“ entsteht. Selbst der günstige Umstand, dass es sich bei diesem

Werk Weber-Kellermanns vor allem um Fachgeschichte handelt, deren Verlauf und Darstellung nur weniger Korrekturen bedarf, kann nicht davon abgesehen werden, dass die Intention des Textes, seine grundsätzliche Anlage und Gliederung sowie die verwendete Wissenschaftssprache die des Jahres 1969 ist. Eine durchaus auch schwerpunktmäßig fachhistorisch ori­

entierte „Einführung“ würde selbst von den beiden Autoren heute wohl anders geschrieben werden. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der Um­

strukturierung, die sie für die dritte Auflage des Werkes vorgenommen haben. Die zwölf Kapitel der ersten und zweiten Auflage wurden fast durchwegs als Unterkapitel in neuen Kapiteln zusammengefasst. So gibt es nun die - leider wenig geglückte - Kapitelbezeichnung: „Vorgeschichte der Volkskunde als wissenschaftliche Disziplin“ mit dem besser gewählten Abschnittstitel „Die Begriffe ,Volk‘ und ,Volkskunde' in der Aufklärung“, der das einstige Kapitel „Volksforschung im Zeitalter des Absolutismus“

ersetzt. Das Kapitel über Wilhelm Heinrich Riehl erhielt den Zusatz „eine umstrittene Gründerfigur“. Der in der zweiten Auflage ergänzte Unterab­

schnitt zur schrittweisen Demontage Riehls als Gründervater der Volkskun­

de erfuhr in der dritten Auflage eine Ergänzung um jüngere Erwähnungen und Überblickswerke zu dieser Problematik. Der Titel des Abschnitts, „Die Riehl-Diskussionen in der Volkskunde nach 1945“, fand jedoch keinen Eingang ins Inhaltsverzeichnis, vielleicht, weil es immer noch als Aktuali­

sierungstext zur Weber-Kellermann und nicht als eigenständiger Abschnitt verstanden wurde. Weitere Kapitel tragen folgende Titel: „Wege zur Etablie­

rung als W issenschaft“, „Volkskunde in der Zwischenkriegszeit“ und

„Volkskunde in der Zeit des Nationalsozialismus“. Das letzte Kapitel, das Weber-Kellermann 1969 als „die deutsche Volkskunde nach dem zweiten Weltkrieg“ bezeichnet hatte, war in der zweiten Auflage unter Einbeziehung der älteren Textbausteine geschickt zu einer 36-seitigen Darstellung von Methoden und Kanongebieten ausgeweitet worden. Dieses Kapitel trägt nun den Titel „Von der deutschen Volkskunde zur Europäischen Ethnologie“.

Die Unterkapitel lassen deutlich das Bemühen erkennen, die angeschnitte­

nen Forschungsfelder (einst Arbeit und Gerät, Realien, Brauchforschung etc.) unter Verwendung neuer Begrifflichkeiten (wie Gender, Kommunika­

tionsforschung, Interethnik) in die Gegenwart hinein fortzuschreiben. Dabei sei wiederum darauf verwiesen, dass es den Autoren kaum sinnvoll erschei­

nen konnte, an dieser Stelle eine vollständige Be- und Abhandlung aller gegenwärtigen Forschungsfelder zu liefern. Vielmehr scheint wiederum das zugrunde liegende Werk weiter geschrieben worden zu sein, in diesem Kapitel auf 50 Seiten ausgeweitet. Eher unmotiviert erscheint die Ergänzung dieses Kapitels durch einen sehr kurzen Überblick über „Zentrale Einrich­

tungen der Sammlung und Forschung“, deren Bedeutung wohl nur aus der

2008, Heft 1 Literatur der Volkskunde 73 Intention einer anzureißenden, jüngeren Institutionengeschichte ver­

ständlich wird. Gänzlich neu verfasst wurde das abschließende siebte Kapi­

tel „Europäische Ethnologie zwischen Sozial- und Kulturwissenschaft. Ein Ausblick.“, das einen „Ausblick“-Abschnitt in der zweiten Auflage ersetzt.

Der äußerst undankbaren Aufgabe dieses letzten, generellen Überblicks über jüngere und jüngste Entwicklungen in einem - nicht zuletzt seines wandelbaren Gegenstandes und seiner vielseitigen Bedrohungsszenarien wegen - hoch dynamischen Faches zu geben, stellen sich die Autoren wacker. Dabei ist es müßig anzumerken, dass dieser Aufgabe nur schwer in einem dicken Band Genüge getan werden könnte, geschweige denn auf zwölf bescheidenen Seiten. Den beiden Autoren kann dabei durchaus zuge­

billigt werden, dass sie ihrer im Vorwort genannten Devise zur Verfassung einer „herleitenden Wissenschaftsgeschichte“ gleich entsprochen haben, wie sie zum Schluss eine „verstehende Übersicht“ geboten haben. Und so ist wohl auch der Titel des Werkes zu lesen als „Einführung“ im Sinne einer

„Hinführung“ zur Volkskunde/Europäische Ethnologie und als „eine“ Wis­

senschaftsgeschichte.

Oliver Haid

HÖRZ, Peter F. N.: Kunde vom Volk. Forschungen zur Wiener Volkskultur im 20. Jahrhundert (= Enzyklopädie des Wiener Wissens; Bd. II Volks­

kunde). Bibliothek der Provinz, Edition Seidengasse, Weitra 2005,131 Seiten.

Die Publikation erschien als zweiter Band der Reihe Enzyklopädie des Wiener Wissens. Der Herausgeber Hubert Christian Ehalt erörtert in seinem Vorwort Intentionen und Prämissen der seit 2005 erscheinenden Reihe. Die Bände „werden die Stärken, Feinheiten, Widersprüche und Finessen des Wiener Wissens“ nicht nur mit einer „diachronen Panoramakamera portrai- tieren“, sondern auch unter „das Elektronenmikroskop einer Kulturwissen­

schaft legen, die die Wahrheit in der Dialektik des Detailbefundes sucht“.

Mit einer ansehnlichen „Liste der Wiener Qualitäten“, die sich „beliebig lange fortsetzen ließe“ (S. 11), werden Leserinnen und Leser in laudieren­

dem Tenor zur Lektüre eingeladen, um den „alltäglichen Genuss an den Qualitäten und Widersprüchen der Stadt mit den profunden Analysen der Reihe zu unterlegen.“ (S. 11) Die Reihe richtet sich offensichtlich an Fach­

leute ebenso wie an allgemein stadt- und kulturgeschichtlich wie volkskund­

lich interessierte Bürgerinnen und Bürger Wiens. Der so erforderliche Spa­

gat zwischen populärwissenschaftlichem Schreiben und fachwissenschaft­

lichem Anspruch ist Peter F. N. Hörz, der die Studie mittels eines

Forschungsstipendiums des Referates Wissenschaftsförderung der Kultur­

abteilung des Wiener Magistrates erarbeitete, gelungen. „Kunde vom Volk.

Forschungen zur Wiener Volkskultur im 20. Jahrhundert“ zeichnet sich durch eine erfrischende, unterhaltsame Sprache aus, ohne die wissenschaft­

liche Bodenhaftung zu verlieren.

Es ist nicht Anliegen des Autors - wie der Titel etwa vermuten ließe - eine lückenlose Fachgeschichte der Wiener Volkskunde vorzulegen, son­

dern er versteht seine Studie als „survey über Forschungen zur Wiener Volkskultur“, die zugleich unterschiedliche Herangehens weisen im jeweili­

gen Zeitkontext kritisch beleuchtet. Hörz skizziert wesentliche Stränge historischer wie jüngerer volkskundlicher Diskurse mit einem Fokus auf die ideologische Indienstnahme und Verstrickungen des Faches in nationalso­

zialistischer Zeit, die in den Begriffen Volk und Volkskultur bis heute mitschwingen. Referiert wird über die kritische Auseinandersetzung mit der Fachgeschichte in den 1970-er Jahren ebenso wie über den soziokulturellen Bezugsrahmen der volkskundlichen Akteure und deren Motive, sich mit binnenexotischem, verklärendem Blick der Volkskultur zuzuwenden. An­

fänge und Entwicklung volkskundlicher Forschungstätigkeiten in Wien werden vornehmlich in ihrer universitären Präsenz aufgezeigt, die „Ahnen“

im Spannungsfeld von Statistik und Geographie sowie Germanistik und Altertumswissenschaften verortet und die bekannten Protagonisten, deren Forschungsfelder und Bedeutung in der Disziplingenese kurz vorgestellt.

Über Friedrich Salomo Krauss als „ethnographischer Nonkonformist“ und

„Außenseiter“ der volkskundlichen community informiert ein eigenes Ka­

pitel.

„Und die Stadt?“, fragt das sechste Kapitel, in dem Hörz die Abstinenz der volkskundlichen Pioniere Wiens gegenüber Stadt und Urbanität disku­

tiert. Im Zentrum steht hier der Gründer des Museums für Österreichische Volkskunde, Michael Haberlandt, dessen „Rückwärtsgewandtheit“ sich kaum von den volkskundlichen Zeitgenossen oder der so genannten Wiener mythologischen Schule unterschied, jedoch stellte er auch Bezüge zwischen Wirtschaft und Kultur her und äußerte sich als „Feuilletonist“ zu urbanen Themen. In derHörzschen Studie erstaunt die völlige Ausblendung des 1894 in Wien gegründeten Vereins für österreichische Volkskunde und dessen Zeitschrift, die 1919 in Wiener Zeitschrift für Volkskunde umbenannt wur­

de, nicht nur angesichts der ausführlichen Beschäftigung mit dem Gründer Haberlandt. Dass die fachgeschichtlich relevante Wiener Einrichtung ver­

mutlich dem begrenzten Zeitrahmen zum Opfer fiel, ist bedauerlich. So kommen weder Beiträge noch Autoren der Zeitschrift, die sich sowohl mit Wiener als auch mit Volkskultur anderer Städte beschäftigten noch mögliche Bezüge zu unterschiedlichen volkskundlichen Netzwerken in den Blick

2008, Heft 1 Literatur der Volkskunde 75 (vgl. Index der Österreichischen Zeitschrift für Volkskunde ab 1895, in:

www.volkskundemuseum.at). Hingewiesen sei hier nur auf den programma­

tischen Beitrag des renommierten Kunsthistorikers Alois Riegl „Das Volks- mäßige und die Gegenwart“, mit dem man die erste Ausgabe der Zeitschrift 1895 eröffnete. Darin spiegelt er in einer geradezu modern anmutenden Analyse die ambivalenten Bedürfnisse seiner bildungsbürgerlichen städti­

schen Zeitgenossen in deren Hinwendung zur Volkskultur. Die fehlende Berücksichtigung fällt besonders ins Gewicht, wenn Hörz nach „ Kulturhi­

storiker [n] als bessere Volkskundler“ fragt. Die ,kulturgeschichtlich orien­

tierten Autoren Emil Karl Blümml und Gustav Gugitz, welche die distanzierte Position Haberlandts gegen einen engagierten Standpunkt eintauschten“ (S. 49- 52), zählten ebenso zum Autorenstamm der österreichischen Volkskundezeit­

schrift. Blümml publizierte zudem in der Berliner Zeitschrift des Vereins für Volkskunde (1900-1908) und in den Hessischen Blättern für Volkskunde (1906, 1907). Da sich die Beiträge thematisch nicht vom damaligen volkskundlichen Kanon der Zeitschriften unterschieden, stellt sich die Frage nach der fachlichen Zuordnung der Autoren. Die Wahl unterschiedlicher Publikationsorgane wirft ebenso Fragen nach der jeweiligen gesellschaftlichen Bedeutung der Volkskun­

de und deren Themen wie nach der der Autoren auf.

Freilich entsprechen frühe Völkskulturforschungen zur Stadt Wien nicht heutigen Maßstäben, was man als Desiderat beklagen kann, deren Absenz korrespondiert aber mit der fehlenden Stadtvolkskunde in der Volkskunde Anfang des 20. Jahrhunderts allgemein. Städtische Volkskultur war nicht primärer Gegenstand volkskundlicher Interessen, die urbane Lebenswelt fungierte gerade als Gegenpol dessen, was Volkskundler unter „Volk“ und

„Volksleben“ verstanden respektive als Projektionsfläche konstruierten.

Das „Volk“ der Volkskundler wurde in der ländlich bäuerlichen Bevölke­

rung gesucht, die man vom Modemisierungsprozess vermeintlich unberührt wähnte. „Kunde vom Volk“ war (und ist) nicht nur Generierung von Wissen, sondern sie gibt ex post nicht zuletzt Aufschluss über die ,Künder‘ vom Volk, die aus unterschiedlichen fachlichen und wissenschaftlichen Milieus ka­

men. Daher hat Suche nach der frühen Volkskulturforschung in zweifacher Hinsicht Fachgrenzen überschreitend vorzugehen. Hier liegen auch die Stärken Hörz’ Studie, die zu Recht Persönlichkeiten und Institutionen be­

rücksichtigt wie den Sozialreporter Max Winter, den Ökonomen Otto Neu­

rath oder die Akteure der Wiener Bezirksmuseen, die sich volkskundlichen Themen widmeten. Das fachgeschichtliche Spektrum der Wiener Volkskul­

turforschung so erweitert können innovative Zugänge und Linien wie z.B.

von Neuraths Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum bis hin zur Volkskunde als sozialkritische und demokratische Kulturwissenschaft, wie sie Helmut Paul Fielhauber seit den 1970-er Jahren in Wien vertrat, transparent machen.

Der Autor stellt in seiner Arbeit wiederholt Bezüge zu gegenwärtigen Phänomenen und Entwicklungen her. So sieht er im „Boom der Volkskultur in der selbstreflexiven Erlebnisgesellschaft“ Anzeichen für eine „Wiederho­

lung dessen, was im 19. Jahrhundert konstitutiv für das aufkommende Interesse an des Volkes Kultur gestanden ist.“ (S. 28) Pluralisierung und Individualisierung evozierten eine Vielfalt der Kulturen - das „Volk ist bunt geworden“. Die nachmodeme „neue Unübersichtlichkeit“ (S. 28) scheint Hörz zufolge auch wieder die gleichen Bevölkerungsgruppen zu mobilisie­

ren; „längst hat sich der gebildete mainstream unserer Gesellschaft zu einem Heer von Volkskundlern entwickelt, zu nichtakademischen Fachleuten der Volkskultur“ (S. 28). Der „bildungsbürgerliche Mittelstand“ befriedige sei­

ne „Erlebnisansprüche“ (S. 26) im Goutieren vermeintlich echter, uriger, authentischer oder pittoresker Volkskultur, die zum lukrativen Marktseg­

ment des Tourismus geriert. Ein Déjâ-vu der Begriffe und Phänomene erscheint demnach evident, aber aus fachhistorischer Perspektive ist man zuweilen auch irritiert und meint, ob der nicht überhörbaren Philippika, mit der „gehobene Mittelklasse“ oder ,,bildungsbürgerliche Alltagstouristen“

etc. wiederholt bedacht werden, oder ob des Plädoyers für die „Kunde vom Volk“ als „Navigationswissenschaft“ (S. 103), schon einmal Ähnliches vernommen zu haben und fragt nach des Autors Intention und Definition von „Volk“.

Aber Hörz’ Buch zeigt, dass er die Hypotheken des Faches kennt, dessen Aufgabe er in der Nachmodeme darin sieht, Volkskultur als „Folge von Interrelationen und Ausscheidungskämpfen zwischen Gmppen mit unter­

schiedlichen Interessenlagen“ mit einem „klaren, analytischen Blick“

(S. 33) auch wider den Zeitgeist darzustellen. Abschließend verweist er auf Chancen und Risiken ebenso wie auf Anfordemngen, die sich aus einer neuen Nachfrage nach Völkskultur für die akademische Disziplin Volkskun­

de wie für freiberuflich tätige Kulturwissenschaftler ergeben. In der Um­

benennung des Wiener Universitätsinstituts für Volkskunde in Europäische Ethnologie verbunden mit dem wissenschaftlichen Selbstverständnis des derzeitigen Ordinarius Konrad Köstlin sieht er einen „Wille(n) zum Auf- bmch des Wiener Zweiges der Disziplin dokumentiert“ (S. 94) - eine euro­

päische Orientierung, ein Mehr an Wissenschaftlichkeit durch die „Kontext- bezogenheit der Wissensproduktion und die Frage nach dem Zustandekom­

men des Erkenntnisinteresses“ (S. 95). Ein Take off für die ,Zunft“ sieht Hörz im zunehmenden Bedarf an Volkskulturforschung in der nachmoder­

nen, postfordistischen Gesellschaft, „weil den Kulturwissenschaften als Teil der Sinnindustrie die Funktion zukommt, Modemisierungsfolgen zu kom­

pensieren und neue Identitäten zu stiften“ (S. 104). Er sieht zwar auch Probleme, weil eine starke Nachfrage - mithin „Absatzorientierung“ - die

2008, Heft 1 Literatur der Volkskunde 77 wissenschaftliche Selbstreflexion verdrängen könne. Allerdings überwie­

gen die Chancen nach der Hörzschen Diagnose für die Fachabsolventen, wenn sie „Poesieproduktion, Modemisierungsfolge-Kompensation, sozi­

alpsychologische Therapie auf der einen Seite, Wissensagentur, Aufklärung, Politikberatung, kritische Kulturwissenschaft auf der ändern“ (S. 105) als

„zentrale Zukunftsaufgabe“ (S. 103) ansehen. Die Frage, wie dieser Spagat unter postfordistischen Bedingungen zu schaffen ist, bleibt offen.

Anita Bagus

WÖHLER, Karlheinz (Hg.): Erlebniswelten. H erstellung und Nutzung touristischer Welten (= Tourismus. Beiträge zu Wissenschaft und Praxis, Bd. 5.). Münster 2005, 216 Seiten, 111., graph. Darst.

Ca. 1,640.000 Treffer bei der Eingabe des Wortes „Erlebniswelt“ in der Internetsuchmaschine Google sind wohl ein Indiz für die Aktualität und Verbreitung dieses Begriffs. Nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch im Alltag haben wir es hier anscheinend mit einem weit verbreiteten Phänomen zu tun. Vor allem Webseiten von Tourismusgemeinden, Freizeiteinrich­

tungen und - nicht uninteressant - Autoherstellern finden wir unter dem Stichwort „Erlebniswelt“ im Internet. Sehr unterschiedliche (Be-)Deutun- gen des Begriffes im Rahmen des Tourismus bringt auch der Sammelband

„Erlebniswelten“ zum Vorschein. Entstanden ist das Buch aus den Vorträgen der 6. Arbeitstagung der Kommission Tourismusforschung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde mit dem Titel „Erlebnis leben. Herstellung und Nutzung touristischer Welten“ an der Universität Lüneburg im Jahr 2001.

Die Bandbreite der inhaltlichen Erlebniswelt dieses Buches reicht vom Reiseprospekt über Nationalparks bis zur Inszenierung von Stadtvierteln oder Sehenswürdigkeiten. Doch geht es darin nicht so sehr um eine Diskus­

sion der Begrifflichkeiten, als viel mehr um eine Sammlung verschiedener spezieller Themen bzw. Fallbeispiele, die - ohne dass jeder Autor diesen Begriff explizit verwendet - unter den Oberbegriff der Erlebniswelt einge­

ordnet werden können.

Der erste einleitende Beitrag von Christoph Köck beleuchtet in Kürze die Geschichte der „Erlebnisgesellschaft“ und gibt dazu einen prägnanten in­

haltlichen Überblick. Gleichzeitig geht Köck in diesem interessanten Auf­

satz auf die Schwierigkeiten einer empirischen Analyse der touristischen Nutzung des „ironischen Spiels“ (S. 12) der Erlebniswelten ein. Als Er­

kenntniszirkel bezeichnet er die Tatsache, dass die Kulturwissenschaft die Form der Erlebnisgesellschaft deutet und dokumentiert, was wiederum die

Produktion der Erlebniswelten beeinflusst, die dann wiederum wissen­

schaftlich beleuchtet werden, usw. In Anlehnung an Petra Streng und Gunter Barkaj mündet der Beitrag in die Formel: „Volkskunde zu betreiben, heißt, das Leben professionell erleben zu dürfen.“ (S. 15) Nicht eben eine bahn­

brechende Neuheit, ebenso wenig eine konkrete Anleitung zur Forschung, aber nach einiger vorausgegangener Selbstkritik zumindest eine kleine Streicheleinheit für die Seele des Volkskundlers.

Karlheinz Wöhler meint in seinem Beitrag zur „Topographie des Erle­

bens“, dass der Tourist nicht mehr nach einem konkreten Ort suche, sondern nach einem inszenierten Ereignis: Das Fremde, das aus dem Alltag heraus­

reißen soll, ist „vom Ort entkoppelt“ (S. 18) und kann demnach z.B. in Gestalt von Erlebniswelten ortlos bewegt werden. Wöhler führt ob dieser Entwertung des Raumes, den Topos der Zeit ein: Es gälte, Erlebniszeit zu haben, in der das Fremde im Selbst freigesetzt und der Raum durch das Erleben selbst geschaffen werden kann. Daher spricht er von der Erlebnis­

welt als Experimentierfeld für ein konsequenzloses Erkunden des inneren Selbst - als „postmodemen Lemort“ (S. 22).

Nach diesen beiden eher allgemein gehaltenen Beiträgen, konzentrieren sich die weiteren Artikel vor allem auf konkrete Fallbeispiele, von denen in Folge einige besonders interessante herausgegriffen seien.

Thomas Winkelmann zeigt etwa sehr anschaulich anhand einer Analyse von Fremdenverkehrsbroschüren, wie Bilder über die Einbettung in das kulturelle Gedächtnis (aufgrund der Konnotation mit bekannten Kontexten) in das kollektive Gedächtnis gelangen und zur Vermittlung von Erlebnissen eingesetzt werden. Johanna Rolshoven beschäftigt sich mit der Mediteirani- tät als Lebensstil. Sie deklariert das Reisen als Versuch, sich selbst zu verändern. Der Beitrag behandelt die Sehnsucht nach dem europäischen Süden in Geschichte und Gegenwart und untersucht die Schnittmenge zwischen dem touristischen Alltag in der Fremde und dem touristifizierten Alltag daheim, der sich vor allem im Essen und Wohnen äußert, also in engem Bezug zum Leiblichen.

Eine historische Untersuchung von Christiane Cantauw beleuchtet den spätaufklärerischen Gegenweltentwurf der Fußreise im Gegensatz zur Kut­

schreise. Die (vielleicht etwas langatmige) Überprüfung der Argumente gegen die Kutschreise zur damaligen Zeit und das Ergebnis, dass nicht alle tatsächlich zuträfen, führt Christiane Cantauw zu der These, dass es sich bei diesem Gegenentwurf um eine Erlebniswelt handle: ein Experimentierfeld für ein neues Selbstbewusstsein, in dem die individuelle Leistung über Herkunft und Konvention steht. Als Deutungseliten macht Cantauw die bürgerlichen Kreise fest, deren Argumentationen sie in Reiseberichten und Tagebüchern untersucht hat.

2008, Heft 1 Literatur der Volkskunde 79 Simone Kayser untersucht anhand von Motiven, die ausschlaggebend für die Wahl einer bestimmten Urlaubsart sind und anhand deren Auswirkungen auf sogenannte Rucksacktouristen, das Spiel mit Identitäten im Tourismus.

So meint sie etwa, dass es den Globetrottern um das Erleben geht, genauer um ein „sinnliches Miterleben“ (S. 101) einer subjektiven Authentizität.

Norman Backhaus taucht in seinem Beitrag über einen Nationalpark in Malaysia noch konkreter in die Praxis der Herstellung von Authentizität ein.

Er konstatiert, dass sich die Wahrnehmung von Authentizität nicht nur auf die direkte Wahrnehmung vor Ort beschränkt, sondern maßgeblich durch Vorinformationen und die ersten Eindrücke bei Anreise und Unterkunft geprägt ist. In seiner Untersuchung macht Backhaus konkrete Verbesse­

rungsvorschläge für die Betreiber des Nationalparks. Der Dozent eines Geographischen Instituts zeigt somit, wie ähnliche praxisnahe Untersuchun­

gen auch für Unternehmen von großem Interesse sein könnten.

Gritt Sonnenberg beschäftigt sich mit „aufgewerteten“ Stadtvierteln als Erlebniswelten und zeigt, indem sie Stadtviertel mit Themenparks und ähnlichen Einrichtungen vergleicht, in denen Heimat und Fremde gleichsam vereint werden, indem das Fremde (als das „Reizvolle“) im Kopf mit Bekanntem ergänzt wird, um die Orientierung zu ermöglichen. Sie hält fest, dass „Orte von den Menschen, die sie bewohnen, besuchen oder benutzen, identitätsstiftend sozial konstruiert werden“ (S. 168) und bezeichnet Stadt­

viertel als konstruierte Räume, die dennoch Komponenten des lokalen Raumes enthalten.

Britta Spies betrachtet in ihrem Beitrag einen noch größeren Raum, nämlich das Ruhrgebiet. Auch ihr geht es um die Konstruktion bzw. Umdeu­

tung eines Raumes mit lokalem Bezug: die Entwicklung des Ruhrgebiets als Tourismusregion. Sie skizziert den Weg einer vom Tourismus ehemals sehr wenig berührten Region zur Erlebnislandschaft. Die gemeinsame Ver­

gangenheit - die Geschichte der Industrialisierung - wird dabei zum Mar­

kenzeichen und dient der Profilierung des Gebiets: die Schlagworte lauten Industrie, Kultur, Landschaft. Erst aufgrund dieses „labelings“ kann Authentizität als eigenes unmittelbares Erlebnis vermittelt werden und diese von Vielen eher als düstere Industriebrache konnotierte Region als Freizeit­

landschaft Interesse wecken.

Der letzte Beitrag des Sammelbandes stammt von dem Soziologen Walter Kiefl und trägt den programmatischen Titel „Utopia ist nahe“. Kiefl geht darin zum einen den Gründen für die verbreitete Abwertung von Frei­

zeiteinrichtungen in Alltagsdiskursen nach und beleuchtet zum anderen die Gründe für die tatsächliche Attraktivität dieser Einrichtungen, die sich an den hohen Besucherzahlen schließlich bestätigt. Er spricht diesen Freizeit­

welten ein therapeutisches bzw. sogar gesellschaftsverändemdes Potential zu,