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Der polizeilich-administrative Zigeunerbegriff 8

Im Dokument Roma, Sinti und … (Seite 36-40)

Zur Analyse des Begriffes „Zigeuner“ stehen sich gegenseitig er-gänzende differenzierte Ansätze zur Verfügung, die je nach un-tersuchtem Zeitraum den Begriff „Zigeuner“ als ethnische oder soziographische Zuschreibung, als polizeilichen Ordnungsbe-griff oder als (sozial)rassistischen BeOrdnungsbe-griff interpretieren. Nach Michael Zimmermann steht dem soziographischen Zigeunerbe-griff, „der diese Gruppe mit der fahrenden, manchmal auch nur mit der ausländischen fahrenden Bevölkerung gleichsetzt“, ein eher „kulturalistischer“ bzw. „biologistischer“ Begriff gegenü-ber, dem „Kategorien wie `Ethnie´, `Volk´, `Stamm´ oder `Rasse´

zugrunde liegen“.9 Leo Lukassen führte in die Diskussion um den Begriff „Zigeuner“ den Terminus `Ordnungsbegriff´ ein,

„damit ist eine Form der Kategorisierung gemeint, die so domi-nant ist, dass sich ihr niemand entziehen kann: weder diejeni-gen, die sich ihrer bedienen, noch diejenidiejeni-gen, die von ihr erfasst werden sollen. [...] Ist eine Person einmal `Zigeuner´, besteht nur noch eine kleine Chance, dass andere ihr noch neutral oder pos-itiv gegenübertreten können. Bei Behörden manifestiert sich dies in Form von Stigmatisierung, und beim Zigeuner führt die Aus-nahmestellung zur Ethnisierung.“10 Nach Lucassen war die Stig-matisierung von Zigeunern „Bestandteil einer viel breiteren Of-fensive gegen Arme, Bettler und die sogenannten `Vaganten´

und `Fahrenden´“.11 Ende des 19. Jahrhunderts bestärkte u. a. die Entstehung der akademischen Kriminologie die Meinung, dass viele wiederholt straffällig gewordene Kriminelle aufgrund so-zialer Umstände und biologischer Eigenschaften „zur

Krimina-7 Siehe dazu auch Florian Freund, Der polizeilich - administrative Zi-geunerbegriff. Ein Beitrag zur Klärung des Begriffes “Zigeuner”, in:

Zeitgeschichte 30 (2003) 2, S. 76 – 90.

8 Michael Zimmermann, Rassenutopie und Genozid. Die nationalso-zialistische “Lösung der Zigeunerfrage”, Hamburg 1996, S. 17 ff.

9 Leo Lucassen: Zigeuner. Die Geschichte eines polizeilichen Ord-nungsbegriffes in Deutschland 1700–1945, Köln – Wien – Weimar 1996, S. 215.

10 Ebd., S. 75.

11 Ebd., S. 27.

lität verdammt“ seinen.12 Zigeunerpolitik wurde zu einer un-bestrittenen Domäne der Polizei, „wobei der Definitionsmacht wie auch der schikanösen Gewalt der Polizei kaum Grenzen gesetzt wurden“.13 Auch Wulf Hund vertritt die These, dass ein Weg vom Freiburger Reichsabschied von 1408 (in dem die „Zi-geuner“ für vogelfrei erklärt wurden) bis in die nationalsozialis-tischen Vernichtungslager führt.14 Der Nationalsozialismus selb-st brachte nach Analyse Lucassens trotz seiner Durchdringung des gesellschaftlichen und politischen Denkens in Deutschland mit Rassenideen keine grundlegende Neudefinition des Zige-unerbegriffes.

Da kaum Quellen über das Selbstverständnis der „Zigeu-ner“ überliefert sind, kann nicht überprüft werden, inwieweit es Übereinstimmungen zwischen ethnischer Fremdzuschrei-bung und SelbstzuschreiFremdzuschrei-bung gab. Die Behörden interessierte auch die Selbstzuschreibung in keiner Weise. Der in den Quel-len der Zwischenkriegszeit aufscheinende Begriff „Zigeuner“

ist daher ausschließlich als stigmatisierender Objektbegriff zu verstehen, wobei die Exekutive die Definitionsmacht innehatte.

Der „Anschluß“ Österreichs beseitigte nicht nur jede Hem-mung im Vorgehen gegen „Zigeuner“ und führte Rassismus und „Rassenhygiene“ als Staatsdoktrin auch in Österreich ein.

Auch die polizeilichen Strategien gegen Armut und Kriminali-tät hatten im nationalsozialistischen Deutschland der 30er Jah-re eine durchgJah-reifende Veränderung erfahJah-ren. Es hatte sich die Auffassung durchgesetzt, dass Kriminalität („Gewohnheits- und Berufsverbrecher“) und Asozialität vererbbar wären und eine Ge-sellschaft ohne Kriminalität und Asozialität nur dann erreichtet werden könnte, wenn im Rahmen der „Rassenhygiene“ diese Elemente „ausgemerzt“ würden.15 Die Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit des Zigeunerbegriffes, legitimiert durch

„wissen-12 Ebd., S. 176.

13 Wulf D. Hund (Hg.), Zigeuner. Geschichte und Struktur einer rassi-stischen Konstruktion, Duisburg 1996.

14 Zur Entwicklung dieser Strategien der Polizei siehe: Patrick Wagner, Hitlers Kriminalisten. Die Deutsche Kriminalpolizei und der Natio-nalsozialismus, München 2002.

schaftliche“ Instanzen, erlaubte der Kriminalpolizei willkürliche Definitionsmacht und radikalstes Vorgehen gegen die so stigma-tisierten Menschen.

In Österreich spielten die während des Nationalsozialismus von den „Zigeunerforschern“ vorgeschlagenen und von Berlin verordneten Definitionen von „reinrassigen Zigeunern“, „Misch-lingen“ und „nach Zigeunerart Umherziehenden“ eine nur sehr untergeordnete Rolle. Sie waren eher ein akademisches Phäno-men, hatten jedoch eine wichtige Funktion bei der Legitimation von Deportation und Massenmord. In der Praxis der Verfolgung der „Zigeuner“ im Nationalsozialismus war der in der Zwi-schenkriegszeit formulierte und angewandte polizeilich-admi-nistrative Begriff entscheidend, während die von der „Kriminal-biologie“ verordneten Unterscheidungen nur in Einzelfällen eine Bedeutung waren. „Man“, d.h. Polizei, Fürsorge, Bürgermeister und Landräte, wusste einfach, wer ein „Zigeuner“ war. Anhand der Deportationserlässe und der Praxis der Deportationen von

„Zigeunern“ lässt sich nachweisen, dass zum Teil in Übereinstim-mung und zum Teil trotz gegenteiliger Anweisungen Himmlers die Sicherheitsbehörden nach ihren Kriterien bestimmten, wer in ein Lager kam oder in die Vernichtungsstätten deportiert wurde und wer nicht. Damit war der im Österreich der Zwischenkriegs-zeit übliche polizeilich-administrative Zigeunerbegriff Grundla-ge für die Definition dieser Opfergruppe während des NS-Re-gimes. Damit wird klar, dass die Bedeutung der „Rassenhygieni-schen Forschungsstelle“ und die Arbeit ihres Leiters, Robert Rit-ters, bisher in der historischen Forschung weit überschätzt

15 Siehe z.B.: Walter Dostal: Die Zigeuner in Österreich, in: Archiv für Völkerkunde, Bd. X., Wien 1955, S. 1–14. Zitiert auch bei: Selma Steinmetz, Zigeuner, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Widerstand und Verfolgung in Wien 1934 - 1945, 3 Bde., Wien 1984, S. 352 - 360; Selma Steinmetz, Österreichs Zigeu-ner im NS-Staat, Wien - Frankfurt a. M. - Zürich 1966, S. 7; Erika Thurner, Nationalsozialismus und Zigeuner in Österreich, Wien -Salzburg 1983, S. 220, Fußnote 1; Erika Thurner, Die Verfolgung der Zigeuner, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstan-des (Hg.), Widerstand und Verfolgung in Salzburg 1934–1945. Eine Dokumentation, Bd. 2, Wien 1991, S. 474 - 521.

wurden und sie auf ihren radikalisierenden und legitimatori-schen Charakter reduziert werden müssen.

Geschätzte Zahl der im Nationalsozialismus ermordeten und überlebenden Roma und Sinti bzw. „Zigeuner”

Die Zahl der im Nationalsozialismus ermordeten österreichi-schen „Zigeuner“ ist nach wie vor sehr schwer zu schätzen. Zu groß sind die Definitionsprobleme, da „Zigeuner“ z.B. in den Konzentrationslagern keine einheitliche Häftlingskategorie dar-stellten und häufig auch als „Asoziale“ in die KZs eingewiesen wurden.

Die in der Fachliteratur vorgenommenen Schätzungen schwanken dabei zwischen rund 4500 und 6000 österreichischen Roma und Sinti, die den Nationalsozialismus nicht überlebten.16 Mit Sicherheit kann jedoch die tatsächliche Zahl der ermordeten

„Zigeuner“ höher angesetzt werden. Eine mögliche Annäherung an die Zahl der ermordeten österreichischen „Zigeuner“ ist, die Zahl der Deportierten zu ermitteln und davon ausgehend die Zahl der Ermordeten zu schätzen. Nach dieser Berechnung muss davon ausgegangen werden, dass mindestens 9500 als „Zigeu-ner“ verfolgte Menschen ermordet wurden.

Die nach 1945 vorgenommenen behördlichen Erhebungen um die Zahl der überlebenden „Zigeuner“ sind ähnlich problematisch wie jene der Zwischenkriegszeit. In einem Dokument der Ergän-zungsabteilung des Landesgendarmeriekommandos für das Bur-genland vom 7. Februar 1952 findet sich der Hinweis, dass „unter dem Vorwande, alle Opfer des NS-Terrors zu erfassen, [...] im Jahre 1948 eine Zählung aller im Burgenland wohnhaften Zigeu-ner“ stattfand, bei der 281 Männer, 372 Frauen und 214 Kinder gezählt wurden.17 Eine Erhebung der Sicherheitsdirektion für das Burgenland aus dem Jahre 195218 brachte ähnlich unvollständige Angaben der Gemeinden wie eine Erhebung des burgenländi-schen Landesarchivs aus dem Jahre 1957.19 Aus den Akten-beständen des Opferfürsorgereferats im Burgenland und eines 16 Amtsvermerk, Erhebungsabteilung des LGK f.d.Bgld vom 7.2.1952,

ÖSTA, ADR, BMI 102.389-13/60.

Großteiles der Akten des Wiener Opferfürsorgereferates konnten insgesamt 914 Antragsteller ausgemacht werden, die eindeutig als

„Zigeuner“ verfolgt worden und vor 1945 geboren waren.20 Alle diese Zahlen bestätigen die Schätzung, dass in ganz Ös-terreich ca. 1500 bis 2000 als „Zigeuner“ stigmatisierte Personen die nationalsozialistische Verfolgungspolitik überlebt haben.

Wiedergutmachung und Opferfürsorgeleistungen für

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