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Ein volkskundlich-soziologischer Grenzumgang im „europäischen Haus“

Peter F. N. Hörz

B a ld ein Ja h rze h n t ist seit d er Ö ffn u n g O stm ittele u ro p as v er­

gangen. D as A b k o m m en von S ch en g en b esch ert den E U -B ü r- gern im V ertragsraum freies R eisen und im b a rg eld lo sen Z a h ­ lu n g sv e rk eh r ist die E u ro -W äh ru n g b ereits in K raft. D och ü b e r das V erschw inden d e r G ren zen w ill n ich t n u r F re u d e au fk o m m en . W ährend sich n atio n ale T ren n lin ien verw isch en und ein e E n tw ick lu n g v erläu ft, die m an als „ G lo b a lisie ru n g “ beze ic h n e t, w erden w ied er v erstärk t Z äu n e und M au ern a u f­

g erich tet. Z u m in d e st in G eist und P sy ch e w erden w ieder G ren zen gezogen. Z u lan g e spielten G ren zen in d er G e sc h ich ­ te e in e zu w ic h tig e ku ltu relle R olle, als daß sich die p olitisch und ö k o n o m isch gew o llte E n tg re n zu n g k u rzfristig d u rc h se t­

zen könnte.

Prolog

Der polnische Theologiestudent aus Oberschlesien ist sichtlich er­

regt: Während der knapp sechsstündigen Bahnfahrt mit dem Eurocity ,Sobieski‘ nach Wien werde man unentwegt von Kontrollen belästigt.

Nicht nur, daß das Bahnpersonal aller drei an diesem Zuglauf betei­

ligten Bahnverwaltungen, der polnischen, tschechischen und öster­

reichischen, nach Fahrkarten und Reservierungsscheinen fragt, nein,

vor allem die dauernden Paß- und Zollkontrollen sind es, die dem

G aststudenten an der W iener Universität zuwider sind: Kaum hat sich

der Zug in Katowice in Bewegung gesetzt, erscheint der polnische

Trupp: Paßnummern werden mit Fahndungslisten verglichen; ein

Zollbediensteter fragt nach auszuführenden Devisen. Der harsche

Tonfall der Beamten flößt den Reisenden Respekt ein. Die strengen

Falten in den Uniformröcken der Polizisten und der polnische Adler

auf den M ützen der Beamten unterstreichen den amtlichen Charakter

der Handlung. A uf der polnischtschechischen Grenzstation, einem

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wäre da nicht die Grenze - unspektakulären Ort namens Zebrzydo- wice, steigt die Grenzgarde der tschechischen Republik zu. Hier ist es ein gekrönter Löwe mit langen Krallen, der von der Schirmmütze des Grenzgardisten herunter deutlich macht, daß mit Grenzkontrollen nicht zu spaßen ist. Zwei Stunden später, bei der Ausreise aus Tsche­

chien, ein ähnliches Ritual. Der österreichische Grenzdienst schließ­

lich - Außenposten der Europäischen Union - will es ganz genau wissen: Wer fährt wohin, wer nutzt Österreich nur als Transitland, wer benötigt einen Sichtvermerk, wer bringt Zigaretten oder Alkohol mit?

Eine Prozedur, die, den Worten des jungen Theologen zufolge, nicht nur unbequem für die Reisenden, sondern auch noch „überflüs­

sig und sinnlos“ sei. Nach dem Ende der ideologisch bedingten Entzweiung Europas könnten sich die einzelnen Staaten doch wich­

tigeren Dingen zuwenden, als Touristen, Handlungsreisende, W issen­

schaftler und Heimaturlauber mit Kontrollen zu behelligen.

Eine ganz andere „Grenzerfahrung“ hat hingegen ein Wirt aus dem brandenburgischen Lübben gemacht: Seit politische Wende und ge­

öffnete Grenzen den malerischen Spreewald aus seiner geopoliti- schen Randexistenz gerückt haben, seien hier „nur mehr Polacken unterwegs“, die „w ie die Ratten“ in Deutschland einfielen. Als billige Schwarzarbeiter verdrängten die Grenzgänger die Einheimischen vom Arbeitsmarkt und schädigten überdies Fiskus und Sozialversi­

cherungen. Nebenbei - so der ältere Herr aufgeregt - betätigten sich die Polen als notorische Schmuggler, brächten Drogen ins Land und seien überdies die „ärgsten Diebe“. Ganz Berlin sei nach der Grenz­

öffnung von billigem polnischem Ramsch auf den illegalen Polen­

märkten überschwemmt worden. Kein Fahrzeug, nicht einmal die

„älteste Rostlaube“, würde die polnische Automafia verschmähen, setzt der Wirt noch nach und zitiert den unvermeidlichen Reim:

„K aum gestohlen, schon in Polen“. Noch schlimmer als die Polen allerdings seien die unzähligen „Fidschis“ und „Zigeuner“, welche seit der Wende allnächtlich schwimmend die Oder durchquerten und anschließend in Deutschland Asyl begehrten ...

Grenzen haben also, dies wird am Tenor der beiden Äußerungen

deutlich, für unterschiedliche Personenkreise in unterschiedlichen

geographischen Regionen und verschiedenen sozialen Positionen

stark divergierende Bedeutungsqualitäten. Sind Grenzen einerseits

Verkehrshindernisse, welche den Menschen in seiner räumlichen

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Bew egungsautonomie einschränken und den W arenaustausch behin­

dern,1 so bieten bew achte D em arkationslinien und kontrollierte Grenzübergänge andererseits ein hohes Maß an Sicherheit oder vor­

sichtiger formuliert: Grenzen vermitteln dem hinter (der Eigendefini­

tion jedoch stets vor) der Grenze Ansässigen zumindest ein Gefühl der Sicherheit, das dann verloren zu gehen scheint, wenn der abgren­

zende Charakter im Abnehmen begriffen ist. Beiden jedoch, dem Grenzen überschreitenden Reisenden und dem Schutz suchenden Einheimischen, ist die Grenze wichtig. Beide haben Anlaß über das Phänomen nachzudenken, es aus der Selbstverständlichkeit heraus­

zuheben und zu thematisieren.

Vielen Reisenden wird die Grenzkontrolle zum ritualisierten Ner­

venkitzel, zum maßvollen Abenteuer. Zwar rechnet man nicht wirk­

lich m it einer scharfen Kontrolle und ist dennoch innerlich berührt, wenn man in das Nachbarland einreist, sich damit dessen Gesetzen und Gerichtsbarkeit unterwirft und sich - zumindest ein wenig - auf dessen Kultur einläßt.

Dem „Einheim ischen“ hingegen ist die Grenze wichtig als Schutz­

schild gegen die Fremden, welche jenseits der Grenze ansässig sind.

Fremde, die Angst machen, wenn sie den eigenen Hoheitsbereich betreten, wenn sie als Konkurrenten die eigene wirtschaftliche und soziale Sicherheit in Frage stellen und ihre kulturellen Charakteristi­

ka m it in den als das „eigene Land“ definierten Raum bringen.

Andererseits werden alle „Einheim ischen“ jenseits der Grenze wie­

derum zu Fremden und als solche mit Mißtrauen beobachtet, wenn sie das billigere Benzin tanken, die bessere Salami kaufen und sich in des Nachbarn schöner Landschaft breit machen. Alle Menschen sind aus irgendeiner Perspektive „G renzgänger“, werden von den jew eils Ansässigen als „Frem de“ definiert. „A lle M enschen sind Ausländer - fast überall“, heißt es auf einem Sticker, der das Bewußt­

sein auf die in jüngster Zeit stark gewachsenen ethno-sozialen Gren­

zen zwischen Einheimischen und Immigranten lenken will.

1 A n den d e u tsch -p o ln isch e n G ren zü b erg ä n g en w arten L astk ra ftw a g e n len k e r oft zw isch en v ierzig u n d fü n fzig S tunden a u f die G ren zab fertig u n g . Z u F erien b eg in n o d e r -en d e so w ie an W och en en d en k o m m t es d arü b er h in au s auch bei der P k w -A b fe rtig u n g zu a u ß erg e w ö h n lich langen W artezeiten. W ied erh o lt haben d iese U m stän d e zu M iß stim m u n g e n zw ischen B o n n und W arschau gefü h rt, b e so n d e rs seit die d eu tsch en G ren zk o n tro llen infolge des S ch en g en er A b k o m ­ m en s no ch erh eb lich v ersch ä rft w o rd en sind.

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In ihrem ambivalenten Charakter zwischen Geschlossenheit und kontrollierter Öffnung liegt offensichtlich die Bedeutung der Grenze begründet. Ihre unerlaubte Überschreitung bleibt Tabu; dennoch reizt die Fremdheit, welche man jenseits der Grenze erwartet. Man ist froh, daß sie die eigene Rechtssicherheit und die eigene Handlungsautono­

mie schützt, schätzt aber zugleich die M öglichkeit, Grenzen zu über­

schreiten. Wir sind neugierig auf das Fremde jenseits der Grenze und möchten nicht zuletzt vom Anderssein der Nachbarn profitieren.

Für all jene Menschen freilich, welche in den vergangenen vierzig Jahren innerhalb des realsozialistischen ,Völkerkerkers ‘ eingegrenzt waren, hat der Terminus ,Grenze1 eine besondere Bedeutungsqualität:

Für die große Mehrheit der Tschechen, Ungarn, Rumänen und besonders DDR-Bürger war die Staatsgrenze, umzäunt, vermint oder auch nur markiert und bewacht, gleichbedeutend mit dem Ende der Welt. Selbst zwischen den „sozialistischen Bruderländern“ herrschte nicht immer und überall freie Fahrt.2 Kein Wunder, daß nach d e r,Entgrenzung1 dieser Staaten die Trabis, Skodas und Ladas zu Tausenden ins (westliche) Ausland rollten. Kein Wunder aber auch, daß - nach Jahrzehnten der Gefangenschaft - die neue Offenheit alte Ressentiments offenlegte, neue Unsicherheiten aufkommen ließ und alte Ängste neuerlich schürte.

Den Reisenden regen die Erlebnisse an Grenzen und Grenzüber­

gängen stets zu Erzählungen und zuweilen zu Legendenbildung an:

Zahllose Urlaubsberichte enthalten Exkurse über lange Wartezeiten an Grenzstationen, über unfreundliche, höfliche, m ißtrauische oder nachlässige Zöllner, über Drogenspürhunde, über den mitgebrachten Schnaps oder die zweifelhafte Identität von Onkel Herbert, der auf dem Paßbild seiner Identitätskarte noch keinen Bart getragen hat.

Ob wahr oder unwahr spielt bei diesen Erzählungen keine Rolle.

Entscheidend ist vielmehr, daß die Grenze bei all diesen „modern legends“ den äußeren Anlaß zu ihrer Entstehung bildet und somit offensichtlich Denken und Phantasie anregt.3 Die Grenze also ist mehr als eine gedachte, geodätisch fixierte und völkerrechtlich legi­

timierte Linie im Raum. Sie scheint vielmehr ein besonderer, em otio­

nal befrachteter Ort zu sein, und selbst angesichts der zunehmenden

2 So erschien seit den frühen achtziger Jahren etw a die dam alige V olksrepublik Polen den D D R -M achthabem als zu unzuverlässig, als daß ein freier G renzverkehr zw i­

schen O stdeutschland und dessen östlichem N achbarn erm öglicht worden, wäre.

3 V gl. K rom er, H ardy: G ren zen - sag en h aft. In: Jeg g le, U tz (H g.): Z u r G renze.

E th n o g ra p h isc h e S kizzen. (A u sstellu n g sk atalo g ). T ü bingen 1991, S. 1 3 -1 8 .

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internationalen M obilität, die Teile unserer Gesellschaft auszeichnet, erregt das Überschreiten einer Grenze noch immer die Aufmerksam­

keit des Reisenden. Der Grenzübertritt wird - schon der Geschwin­

digkeitsbeschränkung unm ittelbar vor dem Schlagbaum, der Hin­

weisschilder, Wappen und Symbole wegen - bewußter wahrgenom­

men, als andere Abschnitte einer Reise.

Schon der Terminus „G renze“ macht betroffen. Seine Sinnbedeut­

samkeit erregt unser gedankliches und emotionales „Engagem ent“.4 Wenn jem and von Grenzen spricht, läßt dies aufhorchen, weckt dies unser Interesse, ungeachtet, ob es sich nun um Staatsgrenzen oder um Grenzen im metaphorischen Sinne handelt. Grenzen beschäftigen unsere Psyche, bestimmen wesentlich unseren Alltag und unser (wis­

senschaftliches) Denken. Utopisten unterschiedlichster Provenienz forderten immer wieder in der Geschichte den Abbau von Grenzen, beklagten ihre trennende Wirkung. Jean Jacques Rousseau versuchte mit den Grenzziehungen die Ungleichheit der Menschen zu erklären,5 und der Anarchist Michael Bakunin definierte den „natürlichen Pa­

triotismus“ als zu überwindende „tierische Tatsache“.6 In seinem Gedicht Grenzen der M enschheit brachte Goethe die Ohnmacht menschlichen Seins zum Ausdruck. Grenzen des Wachstums lautet der Titel der deutschen Ausgabe von Meadows ‘ eindringlicher Warnung vor den Folgen unserer Produktions- und Konsumgewohnheiten. Titel, die signalisieren sollen, daß nicht alle Wünsche und Hoffnungen erfüll­

bar, alle Wege auf Dauer gangbar seien.

Grenzen - dies zeigt schon ein erster Überblick - spielen im m enschlichen (Zusammen-)Leben eine besondere, weit über verm es­

sungstechnische und historisch-geographische Aspekte hinausw ei­

sende Bedeutung. Umso erstaunlicher, daß die M enschenwissen­

schaften ihren Blick bislang selten auf die Grenze gerichtet haben.

Erst die Neuordnung des „europäischen Hauses“ - verknüpft mit freudig begrüßten Grenzöffnungen und schmerzhaft-leidvollen neu­

en Grenzziehungen - hat den Kulturwissenschaften die Grenzen ver­

stärkt ins Blickfeld gerückt.

4 Z u den .e n g a g ie rte n 1 bzw. .d is ta n zie rte n 1 T ypen der W ahrnehm ung, des D en k en s u nd S p rech en s vgl. E lias, N o rb ert: E n g ag em en t und D istan zieru n g . B eiträg e zur W issen sso zio lo g ie I. F ra n k fu rt am M ain 1983.

5 D isco u rs su r l ’in eg a lite. In: W eigand, K urt (H g.): Jean Jacq u es R ousseau: S c h rif­

ten z u r K u ltu rk ritik . 2. A ufl. H am b u rg 1971, S. 1 9 0 -2 6 9 . 6 B ak u n in , M ich ael: G esa m m e lte W erke. Bd. 2. B erlin 1924, S. 18.

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Grenzen, M arken und Raine - Begriffe und Bedeutungen

Obgleich heute überall im deutschen Sprachraum verbreitet, ist der Begriff „G renze“ nicht deutscher Herkunft. Vielmehr geht dieser zurück auf den altslawischen Ausdruck grani, was soviel wie Ecke (anderen Quellen zufolge Eiche) bedeutet und von welchem sich das russische und polnische granica sowie das tschechische hranice ableitet.7

Im preußischen Ordensland kam der Begriff Grenze im 13. Jahr­

hundert auf. Es heißt, im Verlauf der jahrhundertelangen Kämpfe des Deutschritterordens gegen dessen östliche Nachbarn sei der Ausdruck den slawischen Sprachen entlehnt worden.8 Im 15. Jahrhundert ge­

langte das Fremdwort weiter nach Westen und wurde in der Folge durch die in Luthers Bibelübersetzung gebrauchte Form grentze Be­

standteil des gemeindeutschen Sprachgebrauchs. In Österreich finden sich die ältesten Nachweise für die Verwendung des Begriffs im 16.

Jahrhundert, wobei damit bis zum 18. Jahrhundert nur die „A ußen­

grenze der abendländischen Welt“, nicht aber die Binnengrenzen des Landes bezeichnet worden sind.9

Bevor jedoch das Wort Grenze im deutschen Sprachraum Anwen­

dung gefunden hatte, bezeichnete der Terminus M ark10 ein unwegsa­

mes W aldgebiet zwischen den Siedlungsbereichen. Eine klare Schei­

delinie zwischen Territorien und Flächeneinheiten wurde mit diesem

7 D er in K lu g es E ty m o lo g isch e m W örterbuch gen an n ten E cke steh t ein e E rlä u te ­ ru n g im H an d w ö rterb u c h d e r d eu tsch en R e ch tsg e sc h ic h te g egenüber, w onach g ra n ic a im A ltslaw isch e n ursp rü n g lich E iche b ed eu tet hat. In fo lg e d e r V erw en­

d u n g des B au m es als G re n zze ic h en sei d er T erm inus in der F o lg e fü r den G ren zb a u m u n d sc h ließ lich fü r die G ren ze im allgem einen an g ew an d t w orden.

V gl. K luge, F ried rich : E ty m o lo g isch es W örterbuch d e r deu tsch en S p rach e. 17.

A ufl. B erlin 1957, S. 269 und H oke, R.: G renze. In: E rler, A d alb ert, E k k eh ard K au fm an n (H g.): H an d w ö rterb u ch d er deu tsch en R ech tsg esch ich te. B d. I. B erlin 1971, S. 1 8 0 1 -1 8 0 4 .

8 In d er F o rm von ,,a n u n srer G ra n izz e “ tau ch t d er B e g riff erstm als 1262 in ein er U rk u n d e aus T h o rn auf. V gl. K luge, F ried rich : E ty m o lo g isch es W örterbuch der d eu tsch en S p rach e (w ie A nm . 7) sow ie: N o n n en m an n , A lm ut: Z u m W ort .G ren ­ ze*. In: Je g g le (w ie A nm . 3), S. 11.

9 B u rk ert, G ü n th e r R .: D ie G ren ze als lan d sch a ftsp räg en d es E lem en t. In: K os, W olfgang (H g.): D ie E ro b eru n g d er L an d sch a ft. S em m ering. R ax. S chneeberg.

(A u sstellu n g sk a ta lo g ). W ien 1992, S. 4 1 2 -4 1 3 .

10 ... o d e r v ielm eh r dessen alt- und m ittelh o ch d eu tsch e V örform en m arha (m arka) u n d m arke.

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Terminus in seiner ursprünglichen Bedeutung also nicht gemeint.

Vielmehr sind es natürliche Hindernisse, sogenannte M arkscheiden, welche die begrenzten Räume unterschiedlicher Nutzer voneinander trennen.11

Nur selten wurde in der vormodernen Zeit die M ark zu jener gedachten, geom etrisch festgelegten Linie, welche heute für die G renzziehung charakteristisch ist. Die M ark war vielm ehr eine Grenzzone, ein naturräum licher Pufferbereich zwischen unterschied­

lichen Einflußsphären, welche es - angesichts einer nur dünnen Be­

siedlung - nicht definitiv zu trennen galt. Das flächenhafte Moment, welches dem Begriff ,M ark‘ zueigen war, läßt auch dessen seit der fränkischen Zeit üblichen Gebrauch in politisch-verwaltungstechni­

schem Sinne erkennen. Hier bezeichnet die Mark einen an oder vor der Reichsgrenze liegenden, nach militärischen Überlegungen orga­

nisierten Verwaltungsbezirk, welcher gleichermaßen alte und neuer­

oberte Territorien umfassen kann.12

Zeichen, Rechte, M ythen - die Grenze in der prämodernen Gesellschaft

Solange die besiedelten Territorien nur kleine zivilisatorische Enkla­

ven inmitten einer als wild und furchtbar wahrgenommenen Natur gebildet hatten, mußten die äußeren Grenzen der Siedlungsräume nicht besonders gekennzeichnet werden. Sümpfe und Moore, Wälder, Gebirge und Gewässer begrenzten den Raum, der nur verlassen wurde, wenn äußere Umstände dies unumgänglich machten. Den Rechtsfrieden innerhalb der einzelnen Gemeinschaften garantierten

11 Erler, A d alb ert, E k k eh a rd K au fm an n (H g.): H an d w ö rterb u ch d er deu tsch en R e ch tsg esch ich te. B d. III. B erlin 1971, S. 280.

12 D e r M a rk im p o litisc h en W ortsinn k am en g leich erm aß en d efen siv e w ie o ffen siv e A u fg a b en zu: E in e rse its g a lt es, den B in n en rau m des R eich es nach außen h in zu sch ü tzen , a n d ererseits die R eich sg ren ze k o lo n isiere n d und m issio n ieren d v o rz u ­ sch ieb en . D a rü b e r h in au s b e zeich n ete M a rk aber auch noch das in K o llek tiv b e­

sitz e in er G em ein d e b e fin d lich e W eideland und den g em e in sch aftlich g enutzten W ald (A llm en d lan d ). V gl. ebd., S. 2 8 0 -2 8 6 . N eben d er S teierm ark und d er M ark B ra n d en b u rg w eisen h isto risch e A tlanten fü r das H o c h m ittelalter etw a d ie M ark L au sitz, die T h ü rin g e r M ark , eine N o rd m a rk (n ö rd lich von M ag d eb u rg ), eine O stm ark (im B ereich des h eu tig en B erlin ), d ie M ark Z eitz (im sä c h sisc h -b ö h m i­

schen G ren zg eb iet), die M ark K ärn ten und die M ark K rain aus.

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juristische Regelwerke und Volksüberlieferungen betreffend den Burgfried, den Dorfzaun und „das Haus“, dessen Integrität sich an Tür, Schwelle oder Fenster begrenzt.13

Im Inneren der Siedlungsgebiete galt es, die landwirtschaftlichen N utzflächen den Eigentumsverhältnissen entsprechend zu scheiden.

Hier konnte nur selten auf „natürliche“ Grenzen zurückgegriffen werden, so daß eine M arkierung der Acker- und Flurgrenzen unum ­ gänglich war. Eine mit dem Pflug gezogene Furche, ein unbebauter Streifen Land zwischen zwei Äckern (Rain), Hecken oder Zäune bildeten im M ittelalter häufig die Grenze zwischen den privaten Nutzflächen einer Gemeinde, welche ihr gesamtes Territorium w ie­

derum durch einen Zaun oder Wall schützte.14

Als Grenzzeichen wurden allerdings auch schon früh markierte Bäume und Felsen sowie gesetzte Steine genutzt. Typisch für viele Regionen war auch die Kombination von zumindest zwei unter­

schiedlichen, sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen zur eindeutigen Identifikation einer Grenze. So galten vielerorts etwa Baum und Stein, „Stein und Bein“ oder Pfahl und Stein als Grenzzeichen.

Eine andere, differenziertere Variante der Grenzzeichnung bestand darin, unter den Grenzsteinen eine bestimmte Anzahl kleinerer Stei­

ne, Tonscherben, Ziegel oder Glasstücke in die Erde zu legen. Bei regelmäßig wiederkehrenden Grenzumgängen prüften vielerorts die sogenannten Feldgeschworenen, ein aus fünf oder sieben Männern bestehendes Gremium, Position und Zustand der G renzsteine.15 Da die vereidigten Prüfer alleine über die jew eils unter dem Grenzstein befindlichen Zeichen und ihrer besonderen Anordnung Bescheid wußten, war nach diesem Prinzip eine nahezu zweifelsfreie Identifi­

kation der Gemeinde- und Flurgrenzen gewährleistet. In allen Fragen

13 V gl. auch: K östlin, K onrad: S ic h erh e it im V olksleben. D issertatio n U n iv e rsitä t M ü n ch en . M ü n ch en 1967, S. 65.

14 D as S e ite n ste ttn e r Z au n rech t u n tersch ied p a n fr id t, den D o rfzau n und g em a ch t - fr id t, den Z au n z w isch en den ein zeln en F eld ern . Je nach den n atu rräu m lich en G eg eb en h eite n w urden im M itte lalter H ecken, H olzzäu n e, F e ld stein w älle o d e r T ro ck en m au ern zur U m fried u n g d e r lan d w irtsch aftlich en F läch en g e p fla n zt bzw.

errich tet. V gl. G rünn, H elene: H ag, Z aun, G atter und G attertor. In: M artisch n ig , M ich ael (H g.): S am m eln und S ichten. B eiträ g e zur S ach v o lk sk u n d e. F estsch rift fü r F ran z M aresch zum 75. G eburtstag. W ien 1979, S. 175.

15 D ie F eld g esch w o ren e n sind in v e rsch ied en en R eg io n en auch als G escheide, U m g än g er, M ärker, S tein setzer o d e r L an d sch e id e r bekannt.

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betreffend Grenzstreitigkeiten kam den Feldgeschworenen richterli­

che Gewalt zu.16

Die Bedeutung aller Handlungen, welche in Zusammenhang mit der Setzung und Überprüfung von Grenzzeichen standen, wurde stets durch einen zeremoniellen Charakter unterstrichen. In aller Regel nahm an Grenzumgängen und Zeichensetzungen die ganze Gemeinde teil. Der definitive Ort einer Grenze wurde häufig durch den Ausgang von Hammer- oder Beilwürfen, Hahnenflügen oder Wettläufen und damit die Entscheidungsfindung auf den transzendentalen Bereich verlagert. Zur Gewährleistung einer möglichst langen Gültigkeit der Grenze und zur Schaffung eines nachhaltigen kollektiven Bewußt­

seins von deren Lage wurde die Setzung von Steinen oft von Hand­

lungen begleitet, welche den Rahmen des Alltäglichen sprengen sollten. Großzügige Geld- oder Naturalspenden für die versammelte Gemeinde oder ein Festmahl sollten den Tatbestand der Grenzzie­

hung im Gedächtnis der Gem eindemitglieder einprägen. Vor allem den Kindern als künftigen Bewußtseinsträgern vom Verlauf der Gren­

zen sollte deren Festlegung ein unvergeßliches Erlebnis bleiben, weshalb man diese mancherorts beschenkte, oft aber auch am Ort der Grenzsteinsetzung ohrfeigte oder verprügelte.17

Im Rahmen der m ittelalterlichen Rechtsordnung kam dem Schutz der Grenzen eine besondere Bedeutung zu: Grenzzeichen galten als heilig und unverletzlich und genossen höchsten Schutz seitens der Herrschaft. Nur wenige Verbrechen standen unter schärferen Strafen als das Versetzen von Grenzzeichen. Grundsätzlich drohte jedem Grenzfrevler die Todesstrafe, wobei schon das Abhauen von Zweigen eines Grenzbaumes oder das Sitzen auf einem Grenzstein als Verlet­

zung der Integrität der Grenze gelten konnte. Grenzfrevler wurden geköpft oder eingegraben, mit empfindlichen Bußgeldern belegt oder durch Schläge bestraft.18 Der Übergang von einer durch Wälle oder Zäune unm ißverständlich sichtbar gemachten zu einer nur mehr durch Zeichen bestimm ten Grenze setzte freilich ein fortgeschrittenes Sta­

dium der Herausbildung des flächendeckenden Gewaltmonopols und ein allgemein verbreitetes Rechtsbewußtsein voraus. Nicht auffälli­

16 V gl. hierzu: O eri-S arasin , R ud o lf: A llerlei ü b e r G ren zzeich en , G ren zfre v el und G ren zsp u k in d er alem an n isch en S chw eiz. B asel 1917, S. 1 4 -1 5 und 2 9 -3 4 . 17 E bd., S. 1 5 -1 6 .

18 V gl. h ierzu auch: E ck h a rd t, K arl A u g u st (H g.): G erm an en rech te. B d. 2. D ie G esetze des K aro lin g erreich es. II. A le m an n en und B ay ern . W eim ar 1934, S. 63.